Hell's Kitchen
Vielleicht spielt der alte Kram eine ganz erhebliche Rolle, was auch immer es nun wirklich ist. Denken Sie doch einfach mal drüber nach, hmh? Zwischen diesem Augenblick und dem Zeitpunkt, an dem ich wieder mit Ihnen sprechen will. Ich hab ja jetzt Ihre Adresse. Und denken Sie auch darüber nach, wie Sie mir helfen können, okay? Allerdings warne ich Sie: Den Schnüffler zu spielen ist nicht die Art Hilfe, die ich brauche. Ich muß jetzt los und dafür sorgen, Ihren Vater am Leben zu halten.«
Also ließ ich ihn mit seinem schlammbeschmierten Hut und offenem Mund einfach dort im Park stehen. Vielleicht würde er ja später noch jede Menge reden. Ich ging zur U-Bahn-Station und erwischte eine Linie 6 Richtung Uptown zur Forty-second Street.
Es gab eine ganze Reihe guter Gründe, warum ich von der Grand Central zu Fuß zu meiner Wohnung gehen wollte, statt den netten, warmen Shuttle zum Times Square zu nehmen. Hauptsächlich aber, weil ich so dem Holy Redeemer an einer seiner bevorzugten Stellen auf der Forty-second Street über den Weg laufen könnte. Sollte ich ihn allerdings nicht sehen, gab es jede Menge Stellen, an denen ich streuen konnte, daß ich etwas von seiner Plauderzeit kaufen wollte, und dann würde er es sich früher oder später zur Aufgabe machen, mich zu finden. Außerdem wollte ich vielleicht irgendwo auf ein paar Bierchen einkehren, damit es meinem Kopf etwas besser ging. Vor fünf war Angelo nicht im Ebb Tide, also würde es das Landmark auf der Eleventh Avenue oder Mike’s American Bar & Grill auf der Tenth oder vielleicht auch Robert’s etwas weiter oben sein. Und natürlich mußte ich immer noch die L&Ms und den Lipton’s- Tee besorgen. Abgesehen von allem anderen, hilft mir ein Spaziergang an einem kalten Tag beim Nachdenken, und ich brauchte Hilfe.
Als ich die Ecke der Fifth Avenue erreichte, ging ich auf Höhe der Public Library langsamer, in die mich meine Mutter, noch bevor ich in die Schule kam, immer mitnahm; wohin ich später, nach einem Arbeitstag als Schuhputzer, allein ging; wo ich zum ersten Mal lernte, daß New York -neben so vielen anderen schönen und weniger schönen Dingen - bedeutet, daß jeder in der Stadt in diesem großen Haus der Bildung und des Lernens willkommen ist, sogar ein unwissender Schuhputzerjunge aus Hell’s Kitchen.
Es war die Bibliothek, zu der ich ging, wenn mir Arme und Rücken zu weh taten, um noch mehr Schuhwichse auf Leder zu klatschen. Ich ging vorbei an den steinernen Löwen namens Patience und Fortitude die Kalksteinstufen hinauf, dann im Erdgeschoß zur Garderobe, wo ich meine Holzkiste mit Wachsbürsten und fleckigen Baumwollappen abgeben mußte. Ein älterer Mann mit einem gepflegten weißen Schnurrbart und einer grünen Leinenjacke nahm sie mir jedesmal mit der größten Würde ab, als hätte ich ihm einen vornehmen Brigg-Regenschirm und den förmlichen Bowler eines Engländers gegeben. Und dann, nach dieser eleganten Liebenswürdigkeit inmitten einer derben und uneleganten Stadt, durfte ich nach oben gehen und lesen. Ich entschied mich für Bücher und Magazine über das County Carlow und das County Dublin und die Wicklow Mountains auf der anderen Seite, wo ich Wurzeln in einer anderen Welt besaß. Und ich las auch über den Krieg. Der Krieg, der bedeutete, daß ich meinen Vater nie kennenlernen konnte, da er nie aus ihm zurückkehrte.
Und wenn ich ihn gekannt hätte, meinen Vater, was wäre dann aus uns beiden geworden? Hätten wir uns gestritten? Wenn dieser Mann Teil meines Lehens gewesen wäre, wenn er mich in die Arme genommen und geküßt oder mich geschlagen und verflucht oder mir geholfen hätte, Dinge zu bauen, oder mir erzählt hätte, wieviel es auf dieser Welt zu tun gab, oder alles zusammen - wie hätte ich diesen Mann dann anderen beschrieben? Was hätte ich vor allem über uns beide gesagt, falls jemand wissen wollte, wie wir als Vater und Sohn miteinander auskamen, so wie ich Waterman an diesem Tag nach dem Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater gefragt hatte ?
Und wenn es die meiste Zeit schlecht zwischen uns gelaufen wäre, wie es zwischen einem Mann und seinem Jungen durchaus sein kann - hätte mir dann selbst das Bedauern mehr Trost gegeben als die Leere, absolut gar nichts von ihm zu wissen?
Ich ging wieder schneller. Der Himmel verdunkelte sich unter grollenden Wolken.
Fünf Blocks war ich gegangen, ohne daß ich dem Holy Redeemer begegnet wäre. Dafür warf sich eine Frage auf, die zwangsläufig eine Antwort
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