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Hell's Kitchen

Hell's Kitchen

Titel: Hell's Kitchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Adcock
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ein paar Monaten stand in einer der Tageszeitungen ein Artikel, daß das Flanders Hotel, das ein Vermögen von der Stadt und den Bundesbehörden einsackt, etwas mehr als eintausend offene und ungelöste Verstöße gegen städtische, wohnungsbauliche, gesundheitliche und baupolizeiliche Vorschriften sein eigen nennen kann. Und daß nicht einer der Politiker in der Stadt oder oben in Albany geneigt war, mit einem Reformgesetz vorzupreschen, bei dem es um etwas ging, das ausnahmsweise wirklich mal reformiert werden müßte. Und so sieht es mit den Notunterkünften in New York aus: Im Flanders Hotel ist nur selten etwas frei.
    Die Bar nebenan besitzt eine Geschichte, die genauso dunstig ist wie der abgestandene Zigarettenqualm, der in blauen Wolken unter dem Blechdach schwebt. Einer der älteren Stammgäste erzählt, der Laden sei 1939 eröffnet und sofort zum großen Renner bei Matrosen der Handelsmarine und deutschen Spionen geworden, die unvorsichtiges Gerede über Aktivitäten an den Hudson-River-Piers belauschten, auch wenn Amerika damals noch gar nicht in den Krieg eingetreten war. Ein anderer meint, nichts davon würde stimmen, der Laden hätte erst nach Kriegsende aufgemacht, nämlich 1946, und da sei’s ein Schuppen gewesen, in dem sich auch nach der Sperrstunde Jazzmusiker trafen und Wein tranken und »Tee« rauchten, wie Marihuana damals genannt wurde. Und wieder andere sagen, der Laden hätte erst gegen 1950 aufgemacht, als vergangene Sportlergrößen im neuen Profi-Catcher-Verband im Hotel abgestiegen waren und einen günstig gelegenen Ort brauchten, wo sie trinken und die Sau rauslassen konnten.
    Ich gehe nicht besonders oft ins Flanders, weil ich mich dort nicht so entspannen kann wie im Ebb Tide, wo nur wenige Gäste sofort »Cop« denken, wenn sie mich sehen. Was genau das war, was abzulaufen schien, als ich durch die Sperrholztür des Flanders trat und zum Pissoir in der Herrentoilette marschierte. Als ich diese Sache erledigt hatte, rief ich vom öffentlichen Münzfernsprecher im hinteren Teil des Lokales die Auskunft an. Ich wollte Sam Waterman jun.’s Nummer im Village. Ich wählte die Nummer, die man mir gegeben hatte, und war nicht weiter überrascht, als ich einen Anrufbeantworter an die Strippe bekam. Beim Pfeifton legte ich auf.
    Nur wenige Gäste können sich zusätzlich zu den Drinks, so niedrig die Preise auch immer sein mögen, auch noch Musik leisten. Was eine Schande ist, denn über die Jahre war die Musikbox der Flanders Bar zu einer guten und sehr vielseitigen Sammlung geworden. Ich fütterte ein paar Quarters in die Kiste und tippte einige Nummern ein, die ich besonders mochte und von denen ich glaubte, daß sie bei den anderen Gästen ankommen würden.
    Der Mills-Brothers’-Hit von 1943, »Paper Doll«, fing an, als ich auf den Barhocker an der Theke rutschte. Ich bestellte mir ein Bier vom Faß und drei scharfe White-Castle- Burger. Jemand mit dem Namen Mario, der seine Entlassung aus dem Knast mit cervezas feierte, bedankte sich bei mir für das erste Stück. »Gut gewählt, Kumpel.«
    Dann kam Hank Williams und »Your Cheatin’ Heart«, und ich beobachtete einen Burschen, der eine Flasche Kodein-Hustensaft kippte. Und ein anderer in Hawaiihemd und Regenmantel erklärte dem Barkeeper mit dem schläfrigen Blick gerade, er sei Tourist, es sei sein dritter Tag in der Stadt und er hätte nicht mit diesem beschissenen Wetter gerechnet. Und dann, gerade als Ray Charles mit »Born to Lose« anfing, sah ich einen vertrauten alten Mann mit einem durstigen Ausdruck auf seinem stoppeligen Gesicht durch die Tür geschlurft kommen.
    Er entdeckte mich, lächelte und kam auf mich zu. Er war etwa mittelgroß und dünn wie eine Bohnenstange. Die Zeit hatte ihre Spuren auf ihm hinterlassen. Er hatte jede Menge graue Haare, dicht und mit einem braunen Schimmer, genau wie sein Teint. Um seine wäßrig blauen Augen, seine zusammengekniffenen Lippen und die eingefallenen Wangen lagen dunkelgraue Falten und noch dunklere Schatten. Er war ein Mann, dessen Äußeres durch ein langes Leben der Beschwerden gezeichnet war, ein Leben, das zwischen Gefängniszellen, kalten Zimmern in miesen Hotels, der psychiatrischen Station des Bellevue und der größeren Irrenanstalt der Straßen hin und her pendelte.
    Über einer Schulter trug er einen großen, nassen Leinensack, als wäre er der Nikolaus. Aber in dem Sack befanden sich nur leere Bier- und Limonadenflaschen. Und um den Hals trug er den zerlumpten Kragen

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