Hell's Kitchen
meinen eigenen Rhythmus. Ich hörte Roys gebieterische Stimme über allen anderen. Und ich hoffte verzweifelt, daß er mit der Menge fertig wurde.
Ich spürte, wie die Leute zurücktraten, wie sich Schritte schnell an mir vorbeibewegten und zur Avenue verschwanden. Ich spürte, wie die Hysterie dank Roy unter Kontrolle kam.
Aber Watermans Brust war immer noch starr wie Stein.
Wieder ließ ich meine Hände seine Arme hinabgleiten, hinunter zu den Handgelenken. Kein Puls. Ich fühlte unter den Achseln. Auch dort kein Pulsschlag.
Ich hob den Kopf, wandte mich ab von dem Blut und dem entsetzlichen Grau und dem Gestank Watermans. Ich saugte die kalte, frische Luft gierig ein, drehte mich zurück und blies in seinen Mund. Und ich fing an zu beten. Ich betete, ich blies Luft in Watermans Mund, ich schlug auf seine Brust, ich betete.
Und er reagierte immer noch nicht. Dann verfluchte ich ihn, wobei Watermans Blut von meinen Lippen flog: »Atme doch, du verdammter Hurensohn! Atme!«
Wieder blies ich in seinen Mund, und schließlich krümmte sich Watermans Rücken, und sein Oberkörper schüttelte sich und zuckte.
Und dann zog mich jemand in einem weißen Kittel fort von Watermans Körper, zog meine steif gewordenen Finger aus seiner Wunde. Zwei weitere Männer in weißen Kitteln und mit Sauerstoffmasken knieten sich an meiner Stelle neben den Mann, in den Schnee und das Blut. Ich rappelte mich unbeholfen auf, war wacklig auf den Beinen, und hörte, wie einer der Sanitäter sagte: »Wir haben ihn, er schafft es... ich glaub’s einfach nicht, der Kerl schafft’s tatsächlich!«
Dann hob Roy meinen Arm über seine Schulter und führte mich zurück zu der Tür in den Keller der Kirche. Und während er die Stahltreppe hinunterging, spürte ich das Blut und den Matsch von meinen Schuhen abfallen. Ich versuchte, die linke Hand zu öffnen, die Hand, mit der ich die Blutung in Watermans Hals gestoppt hatte, doch es ging nicht.
Dreißig Minuten, vielleicht auch länger, saß ich allein in einem Korbsessel im riesigen Bad und Ankleidezimmer hinter Watermans Büro. Meine Hand lag in einem Becken mit heißem Wasser und Bittersalz, und ich spürte, wie sich allmählich die Muskeln in meinem Handgelenk und den Fingern lockerten. Jetzt hatte ich Bekanntschaft mit meiner eigenen Totenstarre gemacht.
Inzwischen war Waterman vom Krankenwagen in die Notaufnahme des Harlem Hospital gebracht worden. Zwei Detectives vom Twenty-eighth Precinct verhörten Kirchenmitglieder und Passanten, die bereit waren, etwas zu sagen, und ein Team der Spurensicherung durchkämmte die kleine Gasse, den Zaun und das leere Grundstück dahinter. Uniformierte Cops regelten den Verkehr auf der St. Nicholas Avenue, sorgten dafür, daß die Schaulustigen und Sensationsgeilen und die unterschiedlich empörten Fußgänger nicht über den Tatort trampelten, bevor jemand Gelegenheit hatte, möglicherweise vorhandene Spuren zu finden, die irgendwo im nassen Schneematsch der Gasse lauern konnten. Was mir ungefähr so wahrscheinlich vorkam wie ein langjähriger Kongreßabgeordneter, der sich im Januar freiwillig für eine Erkundungsreise von Detroit meldete.
Roy und einer der Hausmeister hatten meine Kleider und meine verschmierten Schuhe irgendwohin gebracht, um sie gründlich und schnell reinigen zu lassen, damit ich gottverdammt endlich aus ihrer Kirche verschwinden konnte, bevor noch etwas passierte. Sie hatten es nicht direkt so ausgedrückt, wenigstens nicht mit Worten, aber der Grundgedanke war trotzdem da. Irgendwie wäre Father Love noch ganz der alte, der darauf wartete, daß die Buchhalter die Tageseinnahmen addierten, wenn ich nicht im Tempel herumgeschnüffelt hätte. Dankbarkeit der Öffentlichkeit, genau wie persönliches Wohlergehen, ist keine Vergünstigung, die als fester Bestandteil der Polizeiarbeit angesehen werden kann.
Jetzt saß ich allein inmitten des unheimlichen Komforts von Watermans Privatgemächern. Hier war ich erst vor einer Stunde gewesen, hatte mit einem zutiefst selbstsicheren Samuel Waterman geplaudert, immer noch aufgekratzt nach seiner Father-Love-Bühnenshow, strahlend in seinem unbekümmerten weißen Kaschmirpullover und der grauen Cordhose und den Gucci-Schuhen, und konnte nicht ganz nachvollziehen, daß sich irgend so ein Detective tatsächlich mit den schwülstigen Drohungen gegen seine Geistlichkeit abgeben wollte.
Ich habe festgestellt, daß es in meinem Beruf nützlich ist, in einem Verbrechen mehr zu sehen als nur
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