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Helmut Schmidt - Der letzte Raucher seinen Bewunderern erklärt

Helmut Schmidt - Der letzte Raucher seinen Bewunderern erklärt

Titel: Helmut Schmidt - Der letzte Raucher seinen Bewunderern erklärt
Autoren: Herder
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systematisch studiert – er selbst versichert das Gegenteil. Zu seinen bevorzugten rhetorischen Techniken gehört es, Parlamentskolleginnen und -kollegen in einer Debatte direkt zu „greifen“ und sie zu beschimpfen. Der Aufruhr, den Helmut Schmidt damit im Hohen Haus erweckt, ist gewollt.
    Auch später in immer höheren Ämtern – als SPD-Fraktionsvorsitzender, Verteidigungsminister, Finanzminister und „Superminister“ für Wirtschaft und Finanzen – legt Helmut Schmidt seine Neigung zum Klartext nicht ab. Noch bevor er Bundeskanzler ist, am Vortag seiner Wahl zum Nachfolger Willy Brandts, tut er in beispielloser, geradezu provokanter Offenheit seine politischen Absichten kund. Die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion, die ihn am kommenden Tag wählen sollen, bittet er „schon im Vorwege keineswegs um Entschuldigung dafür, dass vielerlei Hoffnungen und Erwartungen (…) auf das tatsächlich zu Verwirklichende reduziert werden“. Er spricht von der Notwendigkeit, „etwas anderes neu anzufangen, als es vor zehn Tagen aufgehört hat“.
    Der Titel von Helmut Schmidts erster Regierungserklärung lautet „Kontinuität und Konzentration“ – es gehe in den Grundzügenweiter mit sozialliberaler Politik, aber der Gürtel müsse in allen Bereichen enger geschnallt werden! Nie zuvor und nie mehr danach hat ein neu gewählter Bundeskanzler seiner eigenen Partei, dem Koalitionspartner und vor allem den Bürgerinnen und Bürgern in dieser Schärfe die Leviten gelesen.
    Man könnte annehmen, dass Helmut Schmidt sich im wichtigsten Amt, das die Politik zu vergeben hat, zu Verbindlichkeit verpflichtet fühlte, doch das liegt ihm nicht, und so lässt er es auch. Was ihm nicht passt, wird angeprangert. Ihm passen zum Beispiel nicht die theoriebeladenen Debatten der Jungsozialisten, die er von der Studentenbewegung, den 68ern, ideologisch unterwandert sieht. In kaltschnäuziger Direktheit unterstellt er der jungen Linken eine „Krise im eigenen Hirn“. Und prägt in diesem Zusammenhang den legendären Satz: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Damit ist ein Hoffnungs- und Kampfbegriff der jungen Generation, die Vision von einer besseren Gesellschaft, diskreditiert – und die Angehörigen dieser Generation gleich mit.
    Helmut Schmidt verzichtet auch dann auf eine abwägende, auf Ausgleich bedachte Wortwahl, als der Terrorismus das Land aufzuwühlen beginnt. Eine kontroverse Debatte tritt mit dem Tod von Holger Meins ein, der an den Folgen eines Hungerstreiks sirbt. Meins war verdächtigt, als Mitglied der „Rote Armee Fraktion“ terroristische Straftaten begangen zu haben. Am 1. Juni 1972 verhaftet, trat er erstmals im Januar 1973 aus Protest gegen seine Haftbedingungen in den Hungerstreik. Er und die anderen RAF-Gefangenen beanspruchten den Status von Kriegsgefangenen und forderten ihre Zusammenlegung. Ein zweiter Hungerstreik folgte im Mai 1973. Vom 13. September 1974 an trat Meins in seinen dritten Hungerstreik, in dessen Verlauf er trotz Zwangsernährung am 9. November 1974 starb.
    Der Fall Holger Meins ist ein besonderer, denn mit Meins erlangte erstmals ein Terrorist mediale Bedeutung, wenn auch erst im Tod. Ein Foto des toten Holger Meins, der zuletzt noch 39 Kilo wog, mit langen Haaren und gefalteten Händen, stilisierte ihn für seine Sympathisanten zu einer Passions-Figur.
    Bundeskanzler Helmut Schmidt war sich der polarisierenden Wirkung des Falles Holger Meins und besonders der suggestiven Wirkung jenes Fotos bewusst. Umso klarer fiel sein Statement im Fernsehen aus: „Jeder Sozialdemokrat muss jedes Todesopfer beklagen, das als Konsequenz blindwütiger Ideologie erbracht wird. Im Übrigen wird eine unabhängige Kommission von Ärzten die Sache untersuchen. Und darüber hinaus soll hier niemand vergessen, dass der Herr Meins Angehöriger einer gewalttätigen, andere Menschen vom Leben zum Tode befördert habenden Gruppe, nämlich der Baader-Meinhof-Gruppe, war. Und nach alledem, was die Angehörigen dieser Gruppe Bürgern unseres Landes angetan haben, ist es allerdings nicht angängig, sie, solange sie ihren Prozess erwarten, in einem Erholungsheim unterzubringen. Sie müssen schon die Unbequemlichkeiten eines Gefängnisses auf sich nehmen.“
    Helmut Schmidt mochte, als er solche Sätze sagte, überzeugt sein, die Mehrheit der Deutschen würde genauso denken. Er ist als ranghoher Politiker auf eine breite Wirkung seiner Aussagen bedacht. Dennoch hätte er sich nicht nur im Fall von Holger
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