Helvetias Traum vom Glück (German Edition)
Bei diesem Lektorat handelt es sich um einen Freundschaftsdienst. Normalerweise lehne ich solche Arbeiten strikte ab. Das ist nämlich sehr undankbar. Aber, da es sich um meinen Neffen handelt, konnte ich nicht anders. Tja, die Verwandtschaftsbande.»
«Sie sassen also am Schreibtisch, von dem aus Sie das Haus von Frau Weller sehen konnten und korrigierten die Arbeit.»
«Ich habe sie lektoriert, Herr Kommissär. Lektoriert und nicht korrigiert! Das sind zwei verschiedene Dinge. Korrigieren heisst, die Arbeit auf Grammatik und Orthografie hin zu prüfen. Lektorieren bedeutet, dass ich darüber hinaus Aufbau, Inhalt und Stil der Arbeit begutachte. Eine anspruchsvolle Aufgabe. Vor allem, wenn ein junger Mensch derart schludrig arbeitet. Ich musste mich zuerst mit der Materie vertraut machen. Und jetzt überarbeite ich Seite für Seite. Schauen Sie sich diese Arbeit an!»
Nadine beugte sich über eine Anzahl von Blättern.
«Da mussten Sie wirklich viel lektorieren, Herr Professor.»
«Sie sagen es.»
«Das ist eine sehr interessante Tätigkeit, Herr Professor. Faszinierend. Darf ich Sie bitten, uns zu schildern, was Sie am Freitag gesehen haben.»
«Aber selbstverständlich, junge Dame. Ich sass hier. Von Zeit zu Zeit schaute ich zum Fenster raus. Man kann nicht stundenlang konzentriert arbeiten. Ab und zu braucht jeder Mensch eine Pause. In einem dieser Momente ist mir aufgefallen, dass sich jemand an einem der Fenster gegenüber zu schaffen machte.»
«Eine Frau oder ein Mann?»
«Das konnte ich nicht so genau ausmachen. Ich vermute, dass es eine Frau gewesen ist. Die Person war eher klein. Ja, sie wirkte eher weiblich. Aber bei den heutigen Kleidern weiss man ja nie, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.»
«Dann schlug diese Person ein Fenster ein.»
«Zunächst schien sie an dem Fenster zu rütteln. Ich bin sofort aufgestanden, so», er öffnete das Fenster, «und dann habe ich sehr laut gerufen», er drehte sich zu Nadine um, «etwa so: Hallo, was machen Sie da? Lassen Sie das. Sonst rufe ich die Polizei!»
Von der Mühll schloss das Fenster.
«Es ist kalt! Brrr, wirklich sehr kalt.»
«Und dann haben Sie die Polizei angerufen?»
Der Professor bedachte Ferrari mit einem missbilligenden Blick und wandte sich wieder Nadine zu.
«Danach habe ich die Polizei verständigt. Die ist auch sofort gekommen. Aber der Delinquent oder vermutlich die Delinquentin war bereits entflohen. Gestern Vormittag wurde das neue Fenster eingesetzt. Es ist eine Schande!»
«Was ist eine Schande, Herr Professor?»
«Das gab es früher nie. Die heutige Gesellschaft hat keinen Respekt mehr vor dem Eigentum anderer. Das ist noch nicht alles. Schauen Sie sich das Haus an, junge Dame. Schauen Sie es sich an.»
Er führte Nadine zum Fenster.
«Ist es nicht ein schönes Haus? Ein gepflegtes, historisches Altstadthaus. Und was ist mit diesem Haus?»
Nadine sah ihn fragend an.
«Es steht seit Jahren leer. Eine weitere Schande. Finden Sie nicht? So ein wunderbares Haus muss bewohnt sein. Es hat doch seine ganz persönliche Geschichte, die einer Fortsetzung bedarf. Ja, gut, ab und zu kommen Personen mit Koffern, die ein paar Tage hier wohnen. Mehr nicht. Das ist aber nicht dasselbe. Ein solches Haus muss leben, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr.»
«Da haben Sie vollkommen recht, Herr Professor! Es ist nicht in Ordnung, dass ein solch schönes Haus einfach leer steht.»
«Ich kenne die Besitzerin des Hauses, Ines Widmer.»
«Sie meinen Ines Weller?»
«Was ich meine, können Sie getrost mir überlassen, guter Mann!», reagierte von der Mühll verärgert. «Ich kenne Ines aus der Jugendzeit. Sie war sogar eine meiner Schülerinnen, ein oder zwei Jahre lang. Sie müssen wissen, Frau Kommissärin, dass ich früher am Humanistischen Gymnasium unterrichtet habe, bevor ich dem Ruf an die Universität gefolgt bin. Nach den, ich bin mir beinahe sicher, zwei Jahren trennten sich unsere Wege. Ines besuchte auf Wunsch ihrer Eltern ein Internat, das um einiges, ich muss es neidlos anerkennen, um einiges besser ist als unsere staatlichen Schulen, obwohl ich und meine Kolleginnen und Kollegen immer unser Bestes geben.»
«Das Gymnasium in Basel war sicher auch nicht schlecht», brummte Ferrari.
«Hören Sie, welche Ignoranz aus Ihrem Kollegen spricht? Er vergleicht das private Internat mit einer staatlichen Schule. Unglaublich.»
«Das meint der Kommissär nicht so, Herr von der Mühll!»
«Doch, doch! Genauso denkt
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