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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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laute Stimme hinter mir, die mir befahl, stehenzubleiben. Doch ich rannte weiter, und erst nach einer Ewigkeit, vom tiefen Schnee erschöpft, hielt ich inne, drehte mich um und versicherte mich, dass mir niemand auf den Fersen war, und ließ mich in den Schnee fallen. Mein Gesicht glühte, die Kälte war eine Wohltat, ich vergrub mein Gesicht im Schnee. Wie lange ich dort lag, kann ich nicht sagen, aber Scham, Zorn und Furcht tobten in mir und kühlten erst nach einiger Zeit ab.
    Es war dunkel um mich herum, als ich endlich aufstand und langsam, nass und kalt, meinen Weg zurück in unser Dorf antrat. Wie sollte ich den Leuten erklären, dass ich Anna Frick niedergeschlagen hatte? Wie konnte ich es meinem Vater, dem Gendarmen, beichten, dass sein Sohn vielleicht ins Gefängnis müsste, weil er die Tochter des Dorfwirtes überfallen hatte? Und das ein Jahr nachdem Broder auf der Droste gestorben war? Ich war dank meines Vaters mit einem blauen Auge davon gekommen.
    Dass es Anna Frick und keine Hexe gewesen war, wurde mir nun deutlich. Dabei wuchs in mir die Gewissheit, dass ich vielleicht auch dieses Mal davonkommen würde, und nicht, wie mein Freund Alex, in eine Anstalt gesteckt werden würde. Vielleicht würde Anna ihrem Vater nichts von der Mühle und dem Vorfall erzählen.
    Als ich im Dorf ankam, und die Lichter in den Stuben und die Kerzen auf den Weihnachtsbäumen sah, die bereits zum letzten Mal brannten, atmete ich auf. Und als ich endlich am Abendbrottisch saß, und meine Mutter die Reste unserer Gans aufwärmte und mir sagte, dass ich mir in der Kälte noch einmal den Tod holen würde, und mein Vater mich fragte, wo in aller Welt ich so lange gesteckt hätte, erzählte ich ihnen von der schwarzen Mühle. Ich hatte Bernhard nicht gefunden, so sehr ich mich auch bemüht hatte. Meine Eltern schüttelten die Köpfe, und meine Schwester Birgit zeigte mir einen Vogel. »Dachtest du, der schwarze Müller halte ihn gefangen?«, spöttelte sie.
    Von meinem neuen Geheimnis erzählte ich ihnen nichts, von Anna sagte ich kein Wort. Herr Frick kam nie an unsere Tür, um ein ernstes Wort mit meinem Vater zu reden. Die dunkle Gestalt, in die ich vor der Mühle gerannt war, war kein Geist und kein Zauberer gewesen. Nur eine Familie in Hemmersmoor hatte eine Limousine, die nicht recht in unsere Straßen passen wollte, eine schwarze Limousine, die die Kinder im Dorf mit Neugierde und Neid betrachteten. Ich hatte Rutger von Kamphoff nie zuvor gesehen, und doch hatte ich sofort gewusst, wer er war, als er unter mir im Schnee lag. Und allmählich verstand ich auch, dass es genauso gut ein Geist hätte gewesen sein können. Denn Rutger würde mich nicht behelligen.
    »Und hast du eine Hexe aus dem Schornstein kommen sehen?«, fragte meine Schwester Birgit höhnisch.
    Ich biss mir auf die Lippen, schüttelte den Kopf, senkte ihn und zählte langsam bis dreißig.

LINDE
    Käthe Grimm war dem Blick eines heulenden Hundes gefolgt, als sie siebzehn Jahre alt war, und seitdem sah sie Irrlichter und schauerliche Trauerprozessionen nach Einbruch der Nacht und verfolgte die Hochzeiten der Untoten – die Gesichter von Braut und Bräutigam hingen ihnen in Fetzen um die Schädel, ihre Knochen schabten aneinander. Moos hing ihnen in den Haaren.
    Es lebten viele Geisterseher in Hemmersmoor, aber sie konnten durch den Schulterblick eines Freundes geheilt werden. Für Käthe jedoch war es zu spät – kein Zauberspruch konnte den Schaden, den ein heulender Hund angerichtet hatte, wieder gutmachen.
    In ihrer Jugend war sie von vielen Männern umworben worden, doch in ihrem vierzigsten Jahr war sie fett, und Warzen verunstalteten ihre einst gefälligen Gesichtszüge. Ihr rotblondes Haar war ohne Glanz. Nachdem sie in der Drogerie und beim Bäcker gewesen war, fanden die Leute dünne, rotblonde Strähnen auf dem Tresen oder in den Regalen.
    Alle im Dorf kannten ihre Ausbrüche am helllichten Tag, ihr spitzes Kreischen, ihre weit aufgerissenen Augen, die gehetzten Blicke, wie sie auf diese oder jene furchterregende Kreatur deutete. Doch wir sahen nichts, und wir hatten lang aufgehört, ihren Andeutungen nachzugehen. Wir hörten kaum noch zu, wenn sie Geister um ihr Leben anflehte. Wenn wir jungen Mädchen sie im Dorf antrafen, bekreuzigten wir uns – wir wollten ihr Schicksal nicht teilen müssen. Wir wollten geheiratet werden.
    Im Sommer verbrachten vier von uns Mädchen unsere Nachmittage auf Ankes Zimmer und schnitten Bilder von

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