Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
lächerliche superblöde Frage aus den Frauenmagazinen: ›Was hat sie, was ich nicht habe?‹
›Du willst wissen, was sie hat, was du nicht hast?‹, fragte Ernst, und ich sagte: ›Ja.‹
Da hat er mich lange angeguckt und dann den Kopf geschüttelt: ›Nee, Hendrikje, das willst du nicht. Das willst du nicht wirklich wissen.‹
Und dann nahm er die Skier von der Wand, schulterte sie, ging an mir vorbei die Stufen hoch zu seiner Reisetasche, fingerte den Schlüssel aus seiner Anoraktasche und schloss sich die Tür auf. Er drehte sich noch mal zu mir um und sagte: ›Hendrikje, ich bin dein Kumpel. Wenn irgendwas ist, sag Bescheid, ich bin für dich da. Aber jetzt lass mich pennen gehen.‹
Und verschwand.
Bis zu diesem Augenblick war ich glücklich gewesen. Es war Glück, Ernst anzugucken und seine Stimme zu hören. Erst jetzt, als er weg war, als sich die Haustür leise hinter ihm geschlossen hatte, da wurde mir klar, dass ich ihn so schnell nicht wiedersehen würde, dass er nicht mehr mit mir schlafen würde, dass niemand mit mir schlafen würde und nicht mit mir reden. Und es kroch mir eine Kälte in die Glieder, eine sibirische, sibirische Kälte und ich dachte, wenn ich nicht aufsteh und heimgeh, frier ich hier fest, und dann konnte ich kaum aufstehen, weil meine Gelenke ganz steif geworden waren, aber ich bin dann doch aufgestanden und durch den Schnee nach Hause gelaufen.«
»Schön. Sehr schön.« Sagt die Palmenberg. »Das ist gut. Kann ich davon ausgehen, dass das Kapitel Ernst damit abgeschlossen ist?«
»Nein! Wie stellen Sie sich das vor?!« Hendrikje ist voller Empörung. »Tür zu und fertig?«
»Gut«, seufzt die Palmenberg und schaut auf die Uhr, »was dann?«
»Ich bin durch den Schnee nach Hause gelaufen und da saß ich dann in der Küche ’rum. Ernst hatte sich in die sagenhaft schöne Sophie verliebt, und ich wusste, dass es zwecklos gewesen wäre, um ihn zu kämpfen. Die Omi war tot, niemand würde mir jemals wieder eine heiße Suppe hinstellen, meine Bilder waren verbrannt, ich hatte mördermäßige Schulden und mein schönes rotes Rennrad war geklaut. Und wie mir das so durch den Kopf ging, fiel mein Blick auf das Brett mit den Seemannsknoten, das meine Omi seit ich denken kann in der Küche hängen hat, und das kam mir vor wie ein Wink des Schicksals, ich dachte: Genau. Es ist genug jetzt. Es reicht.«
»Was heißt das: Es ist genug jetzt, es reicht?«, will die Palmenberg wissen.
»Na, das heißt, ich dachte, ich bringe mich jetzt erst mal um.«
»Sie wollten sich das Leben nehmen?«
»Ja, genau.«
»Gut, bitte fahren Sie fort.«
»Ich hab mir ein paar Sachen zusammengepackt, meine Zigaretten und ein leeres Marmeladenglas mit Wasser, ich hab das Telefonkabel aus der Wand gerissen und das Brett mit den Seemannsknoten von der Wand genommen. Ich hab mir das Bügelbrett geschnappt und bin einen Stock höher auf den Dachboden gegangen. Auf der einen Seite sind die einzelnen, abgeteilten Käfige für die Mieter, und auf der anderen Seite ist der Trockenboden für die Wäsche, den hat aber außer meiner Omi und mir schon lange niemand mehr benutzt. Da hab ich das Bügelbrett aufgestellt, unter einem Dachbalken, den ich für geeignet hielt. Dann hab ich mir von dem Brett mit den Seemannsknoten einen Stek ausgesucht, das ist ein Knoten, der seine Festigkeit erst durch Zugkraft erhält, der schien mir am besten geeignet zu sein. Den hab ich dann erst mal gebastelt und dann das andere Ende des Telefonkabels schön am Dachbalken festgeknotet. Dann hab ich mich auf den Fußboden gesetzt und meine letzte Zigarette geraucht und immer schön aufgepasst, dass ich die Asche in das leere Marmeladenglas mit dem Wasser schnippe, damit es nicht gleich schon wieder brennt. Als ich die Zigarette zu Ende geraucht hatte, hab ich das Marmeladenglas mit der Kippe gut verschraubt und dann bin ich aufgestanden und hab die Dachluken aufgemacht, weil ich dachte: Hendrikje, du weißt nicht, wie lange es dauert, bis sie dich finden, und dann will ich nicht dran schuld sein, wenn das ganze Haus stinkt. Dann bin ich auf das Bügelbrett geklettert, genau unter meinen Telefonkabelstek und hab mir die Schlinge um den Hals gelegt. Ich stand ganz still und überlegte mir, wie ich jetzt am besten das Bügelbrett unter mir wegtrete, damit es keine Komplikationen gibt, als das Licht im Treppenhaus anging. Das war deutlich zu sehen, der Lichtschein fiel durch die Dachbodentür, und ich dachte, okay, das muss ich
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