Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
die Palmenbergs Bemerkung als Mitgefühl missversteht. »Also ganz abgesehen davon, dass es ein Koga-Miyata war, das mal 2000 Mark gekostet hatte …«
Die Palmenberg schaut Hendrikje an und fatalisiert: »Vielleicht mit ’ner kleinen Campagnolo-Ausrüstung …?«
Hendrikje bestätigt das: »Ja, genau, mit einer Titan-Campagnolo-Ausrüstung, Sie kennen sich ja aus!«
»Natürlich kenne ich mich aus«, seufzt die Palmenberg müde. »Und ich verstehe nicht, wie man ein Koga-Miyata am Bahnhof stehen lassen kann.«
Hendrikje horcht auf und verstummt. Darauf also will die Palmenberg hinaus: Dass alles immer ihre, Hendrikjes, Schuld sein soll, sogar der Diebstahl ihres Fahrrads. Sehr einfach, was die Lady da macht, sehr einfach.
Doktor Palmenberg erinnert sich an ihre Bestimmung und rappelt ihren Oberkörper mühsam wieder hoch. Sie macht ein diszipliniertes Gesicht. »Weiter.«
Hendrikje reckt langsam und stolz ihr Kinn in die Höhe und überlegt, ob die Palmenberg weiteren Atem wert ist. Und berichtet der leidgeprüften Psychologin in überlegenem Ton, was weiter geschah: »Ich bin dann zu Ernsts Wohnung
gelaufen.
Ich hab bei ihm geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht, also hab ich mich auf die Stufen vor dem Haus gesetzt und gedacht: Ich kann ja ein bisschen warten, vielleicht kommt er ja noch. Es fing an zu schneien, und ich saß auf den Stufen und guckte zu, wie der Schnee in den Autoscheinwerfern vorbeijagte und auf der Straße liegen blieb, und merkte noch, wie alles leiser wurde. Das war der Schnee, der die Straße und die ganze Stadt ganz leise machte, und ich weiß noch, dass ich das schön fand und dachte: Siehste Hendrikje, du hast immerhin noch so viel Nerven, dass du das genießen kannst, das Leben geht also weiter.
Dann wurde es mir langsam kalt, und als ich schon überlegte, dass ich nun aber doch bald mal heimgehen müsste, da stand Ernst plötzlich vor mir. Mit seinen Skiern über den Schultern, braun gebrannt und seine Reisetasche in der Hand, und ich war wie erlöst.
›Was machst du denn hier?!‹, fragte er mich und sah nicht so aus, als würde er sich übermäßig freuen.
›Ich warte auf dich‹, hab ich ihm geantwortet, und er nickte nur, ohne was zu sagen. Er warf seine Reisetasche an mir vorbei, nahm die Skier von seiner Schulter, lehnte sie mit besonderer Vorsicht an die Hauswand und blieb dann einfach stehen, wo er stand, und guckte mich an, guckte mich – wie soll ich sagen? – irgendwie
tonlos
an. Ich kriegte langsam ein echt mulmiges Gefühl in der Magengegend, ich dachte: Irgendwas stimmt hier aber nicht.
›Das darf doch nicht wahr sein‹, sagte Ernst genervt. ›Du sitzt hier wie ein herrenloses Hündchen in der Kälte und wartest, dass ich aus dem Urlaub zurückkomme.‹
Ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat, aber irgendwie hatte ich schlagartig keine Lust mehr, Ernst zu erzählen, was in der Zwischenzeit alles passiert war. Ich fand das jedenfalls nicht sehr freundlich von ihm, mich so zu begrüßen, und wie ich noch so überlegte, dass er vielleicht eine anstrengende Heimreise gehabt haben könnte, fiel mir ein, dass doch Sophie mit im Skiurlaub gewesen war, und ich erinnerte mich an das Bild der beiden, wie sie gemeinsam vor dem Farbkopierer gestanden hatten, und plötzlich war mir alles klar und ich hab zu Ernst gesagt: ›Du bist in Sophie verliebt.‹
›Ja‹, sagte er ohne Umschweife, ›bin ich.‹
Und nun saß ich da und nickte tonlos, und Ernst sagte: ›Hendrikje, das hast du doch gewusst, dass das mit uns beiden nicht ewig gehen würde. Und wir hatten eine klare Abmachung. Es ist nie von Liebe die Rede gewesen.‹
›Nee nee‹, das musste ich ihm bestätigen, das hatte ich ja die ganze Zeit gewusst und hingenommen.
›Also.‹
Sophies Bild stieg vor meinem inneren Auge auf, ihre makellose, überirdisch schöne Fresse und die unglaubliche Ruhe, die sie so engelhaft umschwebte, dass all meine Eisenbahnbrücken und kriegerischen Liebesakte daneben wie kranke Psychosen aussehen mussten. Kranke Psychosen, die ihr Ende gefunden hatten in der Weihnachtsnacht, in der Ernst und Sophie sich vermutlich zum ersten Mal geküsst oder so hatten.
Ich dachte, vielleicht irrt Rothwein, wenn er sagt: ›Sie sehen den Krieg in allen Gestalten‹, vielleicht sehe ich nur das Hässliche in allen Gestalten, und Sophie hatte es weggeblasen. Solche Gedanken waren es, die mich Ernst fragen ließen: ›Wieso Sophie?‹ Aber Ernst dachte natürlich, ich frage diese
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