Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
Beruhigung gleich auf den Mund. ›Ich meine nur‹, sagte er, ›man muss loslassen können. Und manchmal muss man alles loslassen.‹
Nur Holger fand das ganze Gespräch irgendwie nicht so witzig und sah ein bissel bleich aus. Er guckte von einem zum anderen und sagte: ›Ja, aber man kann doch nicht …‹, und da bin ich ihm ins Wort gefallen und hab gesagt: ›Doch Holger, man kann.‹
›Und wie man kann!‹, warf Lisa ein und dann erzählte sie von ihrem Ethik-Professor, den sie früher mal an der Uni gehabt hatte. Der hatte alle seine Freunde zu einem geradezu prunkvollen Abendessen eingeladen, hatte einen Geiger engagiert, der wunderschöne Zigeunerweisen spielte und ging irgendwann ganz unauffällig aus dem Zimmer. Keiner der Freunde bemerkte irgendwas, erst nach längerer Zeit fragte einer, wo denn eigentlich der Gastgeber geblieben wäre. Sie gingen durchs Haus und fanden ihn in seinem Arbeitszimmer – erhängt.
›Ja, aber das war bestimmt ein Russe‹, sagte Holger, und Lisa bestätigte: ›Ja, stimmt genau, das war ein Russe.‹
›Ja, die Russen, die machen so was‹, sagte Holger, ›aber wir …‹
›Du predigst doch immer‹, sagte ich zu Holger, ›dass wir sonst was von den Russen lernen können.‹
Und Holger sagte: ›Ja, aber doch nur für’s Leben …!‹
Und ich dachte nur: welches Leben?
Ich sah Ernst an und sah, wie verschwiemelt und aufgedunsen er aussah, und daneben die bildschöne Sophie, und ich fragte mich, wieso Sophie sich von Ernst vögeln lässt, der doch der schlechteste Liebhaber war, den man kriegen kann. Ich dachte an meine Arbeit im Café und an Goebbels, und das sollte ja in Zukunft mein einziger Lebensinhalt sein: da so viel arbeiten, wie’s ging, Goebbels überreden, mir Zusatzschichten zu geben, damit ich meine Schulden bezahlen könnte, und Sugar Browns Kolumnen, die, wenn ich Pech hätte, in Zukunft aus Kochrezepten bestehen würden.
Lisas Ethikprofessor, dachte ich, hatte Stil bewiesen. ›Ein rauschendes Fest geben, mit allen Freunden‹, sinnierte ich, und ich weiß, dass ich dabei lächelte, ›das wär’s überhaupt. Im Kreis aller Freunde, nicht so allein wie ich letzte Nacht auf dem Dachboden, und Musik und gute Getränke. Das ist schön und erhaben, so zu gehen …‹
Keiner sagte was. Alle guckten mich an. Ich glaube, das war die Stelle, wo sie merkten, dass ich es ernst gemeint hatte in der vergangenen Nacht, Stek hin oder her. Mir wurde plötzlich ganz leicht ums Herz, ich sah Ernst an und fand ihn plötzlich beklagenswert hässlich, daneben Sophie, deren Naivität mich aufrichtig erschütterte, Lisa, die müde und faltig aussah und der ich wünschte, dass sie wilde Nächte mit Dieter haben würde, damit sie nicht so wahnsinnig griesgrämig rumlaufen müsste, und Holger, der immer nur lieb und fleißig war, fleißig und lieb, und den niemand für voll nahm und von dem ich plötzlich befürchtete, er müsse eines Tages mindestens Amok laufen und Schulkinder als Geiseln nehmen, damit ihn mal ein Mensch ausreden lässt und er einen einzigen Satz sagt, der nicht mit »ja, aber …« anfängt. Das waren nun meine Freunde, dachte ich. Und: Ich bin allein, ob die hier sitzen oder nicht. Wenn jetzt wenigstens die Omi reinkäme und alle rausschmeißen würde. Aber die Omi kam nicht rein und schmiss niemanden raus und es tat mir weh, dass sie in einem eiskalten Grab lag, sie, die doch immer nur gefroren hatte.
Plötzlich hörte ich mich sagen: ›So möchte ich auch sterben, so wie der Professor. Im Kreis von Freunden, können wir nicht so was machen?‹
Kaum hatte ich gemerkt, dass ich selbst die Sprecherin dieses Textes gewesen war, da erwartete ich auch schon eine lange Stille, aber nix. Lisa rief voller Empörung: ›Jahaa! Am Ende noch bei mir draußen in Schleswig?!‹ Sie meinte ihr Landhaus, in dem sie ja noch wohnte, bis das Loft fertig war.
›Gute Idee‹, sagte ich.
Holger sagte: ›Ja, aber man kann doch sein Leben nicht so einfach wegschmeißen!‹
Und Sophie brach plötzlich in Tränen aus und weinte: ›Oh Gott, mein Vater wartet seit zwei Jahren auf eine neue Niere!‹, aber Ernst tröstete sie und gab ihr sein Taschentuch und sagte: ›Also verbietet sich schon mal der Sprung vom Philosophenturm.‹
Holger sagte: ›Ja, aber ein Selbstmord ist eine private Sache, das muss man schon alleine machen!‹, und Ernst sagte zu ihm, während er auf mein blaues Auge zeigte: ›Du siehst doch, was dann passiert.‹ Und Lisa schnaufte:
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