Hendrikje, vorübergehend erschossen
Ich brachte ihn zur Tür, um mir gleich meine Zeitung von der Fußmatte zu schnappen, aber die Zeitung war nicht gekommen.
Na ja, klar, draußen war alles verschneit und vereist, und dann passiert das schon mal, dass der Zeitungsbote nicht durchkommt.
Also bat ich Dieter, auch die Zeitung mitzubringen, und Dieter fragte: ›Welche denn?‹, und ich sagte: ›Einfach
Die Zeitung
.‹ Denn so heißt die Zeitung, in der Sugar Brown seine Kolumnen schreibt, einfach
Die Zeitung
. Dieter bat mich, ihm das bitte aufzuschreiben auf einem Zettel, er würde es sonst vielleicht vergessen und die falsche anschleppen.
Ich hab mich zwar darüber gewundert, aber dann fand ich das auch gleich wieder süß von ihm und war begeistert, wie gewissenhaft
er war und dass er mich nicht mit einer falschen mitgebrachten Zeitung ärgern wollte. Also bin ich, nackt wie ich war, zurück
in mein Zimmer gehoppelt und hab da ein Eckchen Papier aus einem Skizzenblock rausgerissen und Dieter aufgeschrieben: ›Die
Zeitung‹. Ich bin schnell zurückgeschlupft ins Bett, weil es kalt war, und Dieter zog sich im Flur seine Jacke an und guckte
sich aus rein professioneller Neugier Ernsts Kacheln an, die die Handwerker dort abgestellt hatten. Dieter nahm eine davon
in die Hand, schüttelte den Kopf und sagte: ›Du, damit wirst du |88| keine Freude haben, das sind die billigen, die halten nix aus.‹ Ich musste kichern, weil ich mich freute, dass Ernst Kacheln
in seiner Küche haben würde, die nichts aushalten würden, und sagte zu Dieter: ›Egal, sind nicht meine,‹ und er legte die
Kachel zurück und sagte: ›Besser so.‹ Dann kam er noch mal zu mir, küsste mich noch mal und sagte: ›Ich bin in zehn Minuten
zurück, und dann will ich Kaffee haben.‹ Und ich lächelte ihn an und sagte: ›Geht klar!‹ Ich gab ihm den Zettel und küsste
ihn, und er sagte: ›Den Kaffee will ich aber im Bett trinken!‹ Da küsste ich ihn noch mal und sagte: ›Geht auch klar!‹
Es verging der ganze Vormittag, aber Dieter kam nicht zurück. Naja, das war natürlich schade und ich war traurig, und am Abend
hab ich noch mal in der
Grünen Palme
nachgesehen, aber auch da fehlte der zehnte Mann am Tresen. Ich fing an, mir ein paar Sorgen zu machen, und ich hab auch ein
Stückchen geheult, weil doch gerade eben erst noch alles so schön mit Dieter war und nun war er weg. Ich hab mich dann damit
beruhigt, dass ich mir tausend gute Gründe vorgesagt habe, aus denen Dieter vielleicht verhindert war. Vielleicht hatte er
einfach nur auf die Uhr geguckt und festgestellt, dass wir fast bis mittags geschlafen hatten, und musste in Lisas Loft, schon
um noch ein paar Stunden bei Tageslicht arbeiten zu können. Oder er hatte ein bisschen Schiss vor seiner eigenen Euphorie
bekommen und wollte sich erst mal abkühlen. Ich dachte, komm, Hendrikje, halt den Ball flach, der taucht schon wieder auf.
Die Woche verging, ohne dass ich Dieter wiedergesehen hätte, und dann kam der Freitag, mein letzter Arbeitstag. Wieder hatte
ich eine Bombenlaune, es machte mir so viel Spaß zu kellnern wie noch nie. Wieder gab es Unmengen von Trinkgeld, der doofe
Bruno saß am Tresen, trank Espresso und schwieg, und nach dem Schlagabtausch mit dem Zoo |89| traute er sich nun nicht mal mehr, mich auch nur anzugucken, und ich dachte: schade eigentlich um den armen Kerl.
Als abends um sechs Goebbels kam, um mich abzulösen, hab ich gekündigt. ›Ich komme nicht wieder‹, hab ich gesagt, und Goebbels
glotzte mich an und sagte ziemlich erschrocken: ›Du machst Witze.‹ Und ich sagte: ›Nee, mach ich nicht.‹
Sie hat mir sofort und ohne Umstände wie jeden Freitag meinen ganzen Wochenverdienst ausgezahlt, und ich habe ihn ganz ruhig
eingesteckt und die CDs, die mir gehörten, vom Regal eingesammelt. Dann wollte sie wissen, warum ich denn aufhöre und ob ich
einen besseren Job gefunden hätte. Oh, es war mir ein Pastorenschießen, da stand Goebbels nun und fand das natürlich richtig
doof, dass ich weg wollte. Damit wurden drei Schichten pro Woche frei, und ich wusste, dass sie die so schnell gar nicht neu
besetzen konnte. Sie würde selber ranmüssen.
Ich sagte ihr, dass ich keinen besseren Job hätte, aber dass ich einfach keine Lust mehr auf sie und ihren Laden hätte. ›Ich
habe einfach keine Lust mehr auf diesen Laden, und, Maria‹ – Maria war ihr Vorname –, ›auf dich eigentlich auch nicht.‹ Sie
hielt tatsächlich die Luft an.
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