Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hendrikje, vorübergehend erschossen

Titel: Hendrikje, vorübergehend erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
der sogar noch vor sich selbst ein reines Gewissen
     haben konnte, weil er seine Meinung, wenn auch ganz leise, so doch gesagt hatte.
Hendrikje hat nicht
einmal eine unheilbare Krankheit!,
hatte er gesagt, und niemand war darauf eingegangen, auch Sie nicht. Sie sind ihm sogar noch über den Mund gefahren, Sie haben
     ihn nicht ernst genommen. Sie hätten ihn anschreien können, Sie hätten versuchen können, ihm Ihre Gründe zu erklären, aber
     Sie haben sowieso Holgers kleine Einwürfe nicht ernst genommen, weil sie ja nur von Holger kamen, der lieb und fleißig und
     fleißig und lieb war. Niemand hat Widerspruch eingelegt gegen Ihr Vorhaben, und Holgers Widerspruch
galt
für Sie nicht, denn er kam ja
nur
von Holger.«
    »Ach, und deshalb hab ich ihn verachtet!?«
    »Ja, und vielleicht sogar zu recht. Jedenfalls … Ich denke, dass es diese Verachtung ist, die eine Teilschuld an Holgers Tod
     trägt, sicher.«
    Hendrikje fällt in den Sessel zurück, dreht den Kopf weg, schaut auf den grauen Teppichboden und hält sich die Stirn fest.
    »Lassen Sie uns weitermachen, ich will jetzt wissen, wie Sie von dem Dach lebend runterkamen, denn das sind Sie ja wohl ganz
     offensichtlich.«
    Hendrikje hat gar nicht zugehört und fährt wieder hoch. »Was?«
    »Wie ging das weiter mit Ihnen und Ernst auf dem Dach?«
    »Oh, Ernst, ja. Also.« Hendrikje rappelt sich hoch und setzt sich gerade hin.
    »Ernst. Ernst tat, womit ich nicht gerechnet hatte. Er kam |136| zu mir aufs Dach. Er stieg durch das Fenster und kletterte zu mir auf den Giebel. Er hielt sich noch mit den Händen an der
     Außenwand fest und redete mit seiner Großvaterstimme auf mich ein, so ganz besänftigend und langsam, wie man mit einem Kind
     redet, und das machte mich sauer. Er sagte: ›Hendrikje, wir haben jetzt so viel Scheiße angerührt, dass wir was unternehmen
     müssen. Entweder gehen wir jetzt zusammen zur Polizei oder du machst, was du sowieso machen wolltest. Wir sind ja alle bei
     dir.‹
    Seine Stimme war ganz warm und tief, als er das sagte, und ich erinnerte mich, wie er mit derselben warmen, tiefen Stimme
     früher im Bett immer an der bestimmten Stelle: ›Du zuerst! Lass dich fallen!‹, gesagt hatte. Und das fand ich plötzlich rasend
     komisch. Ich musste kichern und sagte zu ihm: ›Du zuerst! Lass dich fallen!‹, und kicherte mich darüber schlapp da oben auf
     dem Dach, weil ich das irrwitzig komisch fand.
    Ernst kam ein Schrittchen näher. Er stand und ich saß, und er hielt seine Arme weit vom Körper ab, um zu balancieren, und
     das sah mordsmäßig doof aus. Ernst, der Zirkusartist. Er guckte mich ganz ernst an, und ich dachte: Das ist jetzt der Ernst
     meines Lebens.
    Ich musste immer noch kichern, wie er da auf dem Dach rum eierte und es auch irgendwie nicht mehr so richtig gemütlich fand,
     und ich dachte: Aber er hat ja Angst, und das fand ich geradezu außerirdisch, ein Ernst, der Angst hat. Ich dachte: Hendrikje,
     wenn du nicht aufpasst, dann fällst du gleich vor Lachen vom Dach, so sehr musste ich kichern.
    ›Du zuerst! Lass dich fallen!‹, rief ich ihm zu, aber Ernst fand das nicht komisch. Er sagte: ›Halt deine Schnauze. Ich will,
     dass wir jetzt zusammen runtergehen. Ich nehme das Treppenhaus, und welchen Weg du nimmst, ist mir echt egal.‹
    |137| Es war ihm also egal, ob ich mich von ihm zur Polizei abführen ließ oder einfach runterspringen würde, und das nun machte
mir
Angst. Ich dachte, warum will er andauernd mit mir zur Polizei, er weiß doch, dass
er
dann dran ist. Er möchte doch wahrscheinlich viel lieber, dass ich springe, und ich sagte zu ihm: ›Ernst, du weißt doch genau,
     dass
du
dran bist, wenn wir zur Polizei gehen.‹
    ›Das glaub mal nicht‹, sagte Ernst, ›mir kann keiner was beweisen. Und rate mal, für wen Lisa und Sophie aussagen werden?
     Aber wenn du sagst, dass du dich vergiften wolltest und Holger aus Versehen dein Gift geschluckt hat, dann sind wir alle aus
     dem Schneider. Und schließlich war’s ja auch so. Du musst nicht mal lügen!‹
    In meinem Kopf drehte sich alles, ich wusste nicht mehr, was ich denken und glauben sollte und was ich überhaupt wollte. Ich
     schaute Ernst an und dachte, ich könnte in seinem Gesicht lesen, was er eigentlich wollte und ob er mich jetzt verarscht,
     aber ich sah nur, dass er tierisch genervt war von der ganzen Aktion auf dem Dach. Es war kalt, richtig kalt da oben. Ich
     sah, dass er fror, und das nervte ihn noch mehr. Er hatte jetzt

Weitere Kostenlose Bücher