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Hendrikje, vorübergehend erschossen

Titel: Hendrikje, vorübergehend erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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heute echt frisch aus, jemand hat ihre herausgewachsene Kurzhaarfrisur
     irgendwie ganz raffiniert in Form gebracht. Gelöst setzt sie sich hin und schaut die Palmenberg lächelnd an. Die lächelt zurück.
    »Sie sehen heute sehr frisch und gelöst aus, Hendrikje, es freut mich, Sie in so guter Verfassung zu sehen.«
    »Oh, danke«, antwortet Hendrikje, »ich fühle mich auch frisch und gelöst.«
    »Sie haben Ihre Haare sehr hübsch.«
    Hendrikje lacht. »Ja, die sind neu, die Haare, das hat Gudrun gemacht.«
    »Wer ist Gudrun?«
    »Mit der bin ich auf Stube. Die ist Friseuse. Spitzen geschnitten«, nickt Hendrikje verlegen.
    »Sehr hübsch. Wo waren wir?«
    »Ich hatte gerade Ernst vom Dach geschubst.«
    »Oh ja.«
    »Tja, also, weil Sie mal danach gefragt haben, also hier, also jetzt, also hier und jetzt war das Kapitel Ernst dann beendet«,
     sagt Hendrikje ernst.
    »Das stand zu befürchten«, lächelt die Palmenberg.
    |141| »Ja. Er lag unten im Hof, ich konnte ihn sehen. Er war tot, das konnte ich von da oben zwar nicht zweifelsfrei erkennen, aber
     ich hatte das Geräusch gehört, das er gemacht hatte, als er unten aufdotzte, und das hatte mir gereicht. Lisa und Sophie hatten
     das Geräusch wohl auch gehört, oder sie hatten durch die Fenster gesehen, wie er an ihnen vorbeiflog, weiß ich nicht, jedenfalls
     kamen die sofort aus dem Haus in den Hof gerannt, liefen hin zu ihm und knieten bei ihm. Sie merkten auch, dass es vorbei
     war mit Ernst und schauten hoch, und oben auf dem Dach saß ich.
    Jetzt, nachdem ich nun ganz sicher jemand getötet hatte und nicht nur vielleicht, wollte ich wirklich sterben. Ich war zur
     Mörderin geworden, ganz unzweifelsfrei. Hier lag kein Unfall vor, sondern ich hatte Ernst vom Dach geschubst.«
    »Moment, Sie haben gesagt, Ihre Absicht sei gewesen, Ernst wegzuschieben, von sich wegzuschieben. Er versperrte Ihnen ja den
     Weg zurück zum Dachfenster.«
    »Ja, in diesem winzigkleinen Augenblick des Drückens, da dachte ich nur:
weg da
!, aber ich wusste ja schließlich, dass er und ich auf einem hohen Giebeldach standen, beziehungsweise saßen. Die Wahrheit
     ist, dass ich einfach nicht nachgedacht habe in dem Augenblick. Ich wollte Ernst da weg haben, weiter nichts, ich hatte …
     Also ich hatte keine Tötungsabsicht, aber ich wollte ihn da weg haben, und wenn im hintersten Winkel meines Gehirns noch ein
     kleines Fünkchen Bewusstsein war, dass wir uns auf einem Dach befanden, dann war’s mir egal in diesem Moment. Egal. Einfach
     egal.«
    »Hmhmm.«
    »Wie gesagt, ich wollte jetzt, wo Ernst im Hof lag, wirklich sterben. Ich hatte das Gefühl, mein Schädel platzt und mein Herz
     auch. Wie sollte ich leben, wo ich wusste, ich habe das zu verantworten? Das geht gar nicht, so kann man |142| nicht leben. Ich wollte springen. Ich dachte nur:
hinterher,
dann ist der Spuk vorbei
.
    Ich wusste, dass ich dazu aufstehen musste, denn ich saß ja gut und sicher auf dem Dach, aber als ich versuchte aufzustehen,
     da merkte ich, dass meine Knochen steif gefroren waren, dass es plötzlich gar nicht so einfach war aufzustehen. Ich hab versucht,
     auf alle viere zu kommen, ich hab die Hände aufgestützt und versucht, die Beine auf den First zu kriegen, aber ich zitterte
     so sehr, dass ich es nicht schaffte. Ich konnte nicht aufstehen. Ich guckte wieder runter und da stand Lisa mit verzerrtem
     Gesicht und schrie zu mir rauf: ›Spring! Spring endlich!‹, aber ich konnte nicht. Ich wollte so gern und ich konnte nicht.
    Ich kann mich an nichts erinnern, was danach passierte. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich von dem Dach wieder runtergekommen
     bin. Als ich später meine Pflichtverteidigerin fragte, sagte die mir, die Feuerwehr hätte mich runtergeholt, mit so ’ner Leiter,
     wo oben ’ne Plattform dran ist.
Wie man ein Kätzchen vom Baum pflückt
, hat sie gesagt. Dann hätte ich der Feuerwehr, den Sanitätern, die nur noch Ernsts Leiche einsammeln und sonst nichts mehr
     für ihn tun konnten, und der Polizei, die natürlich sofort kam, gesagt, dass ich Ernst vom Dach geschubst hätte. Aber ich
     kann mich da an gar nichts erinnern.
    Meine Erinnerung setzt erst wieder mit diesem Traum ein. Ich träumte, ich steh im Café und muss die Geschirrspülmaschine ausräumen.
     Ich stapele die Cappuccino-Untertassen, die heiß sind und an denen ich mich verbrenne, zu hohen Türmen, aber die Spülmaschine
     wird und wird nicht leerer, es kommen immer mehr Cappuccino-Untertassen

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