Hendrikje, vorübergehend erschossen
gereicht hätte.
Lisa und Sophie saßen im Zeugenstand. Lisa war in einem anderen, parallel laufenden Prozess angeklagt, wegen der Vertuschung
einer Straftat, also wegen Holger. Ich wunderte mich, dass nicht auch ich und Sophie wegen Vertuschung angeklagt waren, aber
die Frau Kogge hat mir das erklärt: Sophie und ich hatten eine ungeplante Tat, nämlich den Totschlag an Holger, beobachtet.
Und es ist nicht strafbar, wenn man so was nicht anzeigt. Aber Lisa hatte die Tat nicht nur beobachtet, sondern mitgeholfen,
die Leiche aufs Eis zu legen, und ich und Sophie eben nicht, und damit hatte Lisa eine Straftat vertuscht. Wie gesagt, Holgers
Tod kam erst durch Frau Kogge raus, die es von mir wusste, und die hat das natürlich nicht für sich behalten und so war Lisa
völlig überrumpelt worden, als man ihr Landhaus in Schleswig-Holstein mit einem Durchsuchungsbeschluss nicht einmal umkrempelte,
sondern sehr zielgerichtet gleich im Keller nachsah und sie plötzlich, genau wie ich, in Untersuchungshaft saß.«
»Sind Sie beide sich dort begegnet?«
»Nein. Ich weiß nicht, entweder saß Lisa in einem anderen |146| Gebäude oder man hat extra besonders darauf geachtet, dass wir uns nicht begegnen, und ich glaube, dass das so war, denn ich
kriegte irgendwann auf einmal mein Essen auf meiner Zelle serviert und durfte nicht mehr in den Speisesaal zu den grünen Gesichtern.
Zuerst wusste ich nicht, warum das plötzlich so war, aber später wurde es mir natürlich klar: Lisa und ich sollten uns nicht
austauschen können und unsere Aussagen, die wir ja noch vor Gericht machen mussten, nicht miteinander abstimmen können.
Also. Meine Verhandlung lief. Ich habe dem Richter alles genau so erzählt, wie es sich zugetragen hatte. Dann wurden die Zeugen
befragt, also Lisa und Sophie. Und da sind mir ja fast die Ohren abgefallen, als die zu erzählen anfingen. Lisa war die Wortführerin,
natürlich, denn Sophie saß mit schon einem kleinen Kugelbäuchlein nur da und heulte, was das Zeug hielt.
Lisa also sagte, man dürfe mir, ihrer Ansicht nach, kein Wort glauben. Man möge doch bitte so freundlich sein und überprüfen,
ob ich überhaupt vernehmungsfähig wär, denn alles, was ich erzählt hätte, käme ihr vor wie eine absolut verzerrte Wahrnehmung
aller Ereignisse, und ich hätte eine Schuldpsychose, immer schon, ich würde mich an allem und allem immer schuldig fühlen,
auch wenn ich gar nicht schuld wäre, auch, wenn in Afrika die Kinder verhungern oder wenn es im Juli regnet. Es sei nämlich
ihrer Wahrnehmung nach so gewesen, dass Holger sich selbst getötet hätte, mit einem Gift, das er an jenem Abend aus seiner
Jackentasche gezogen hätte. Das wollte sie sogar gesehen haben. Und sie hätte sich gar nichts dabei gedacht, als sie das sah,
es hätten ja ebenso gut Bachblüten sein können oder flüssige Kopfschmerztropfen, die Holger vielleicht prophylaktisch einnahm,
weil ja sehr viel getrunken worden wär an jenem Abend. Und es könnte theoretisch auch sein, dass Ernst ihm |147| vorher das Fläschchen mit der Flüssigkeit gegeben hätte, aber das hätte sie jedenfalls nicht gesehen. Jedenfalls wäre die
Geschichte von dem Selbstmord, den ich angeblich im Kreis meiner Freunde mit deren Wissen und Einverständnis geplant hätte,
der reinste Humbug, so was würde sie heute zum ersten Mal hören, sagte Lisa, es würde aber zu mir und meiner geschundenen
Psyche passen, und nachdem meine Bilder verbrannt wären, würde Lisa sich jedenfalls nicht wundern, dass ich dermaßen durch
den Wind und durch den Wolf gedreht wär, dass ich oben und unten nicht mehr unterscheiden könnte.
Tatsache wär allerdings, gab Lisa zu, dass man Anfang Januar bei einem gemütlichen Abend unter Freunden tatsächlich über das
Thema Selbstmord gesprochen hätte, und sie, Lisa, tatsächlich von einem Professor erzählt hätte, der sich während eines Festes
mit Freunden umgebracht hatte. Und Holger hätte das wohl nachahmen wollen, nur mit dem Unterschied, dass der Professor in
ein abgeschiedenes Zimmer gegangen war und Holger halt am Tisch sitzen geblieben wäre, was Lisa als eine üble Geschmacklosigkeit
empfunden habe.
Ich schaute mir Lisa im Zeugenstand an, die aussah wie eine Madonna, natürlich wie eine etwas verlebte Madonna, mit Ringen
unter den Augen und den Falten, die sich von ihren Mundwinkeln nach unten zogen, aber dennoch: eine Ikone der Klarsicht, Vernunft,
Ruhe, Rechtschaffenheit
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