Hendrikje, vorübergehend erschossen
und Unschuld. Ich glaube, mein Unterkiefer klappte mir bis auf die Knie vor lauter Staunen: Sie behauptete
wirklich, Holger hätte sich freiwillig umgebracht.
Der Richter wollte natürlich wissen, warum man denn nicht sofort die Polizei verständigt hätte, als Holger plötzlich und unerwartet
nach Genuss eines zweiten Sorbets vom Stuhl gefallen war. Lisa antwortete ihm, dass wir alle, als |148| das passierte, unendlich, unvorstellbar schockiert gewesen wären. Sie selbst hätte sich sofort erbrechen müssen und wäre zur
Toilette gelaufen und wäre da bestimmt eine halbe Stunde nicht wieder weggekommen. Schließlich hätten wir alle an Holgers
Eltern gedacht, deren einziges Kind Holger gewesen war, und wir wussten alle, dass das ganz, ganz furchtbar für diese Eltern
werden würde. Ernst hätte die Eltern sofort anrufen wollen, sagte Lisa, aber Sophie hätte dafür plädiert, zuerst die Polizei
zu verständigen, und die hätten ja dann die Eltern benachrichtigen können, und zwar besser als wir, weil die das ja öfter
tun und nicht so wahnsinnig betroffen und mitgenommen wären wie wir. Jedenfalls, sagte Lisa, hätten Ernst und Sophie sich
über diesem Thema richtig in die Wolle gekriegt, ihr erster Krach in ihrer so jungen Beziehung. Sophie hätte wahnsinnig geweint
– und hier schaute Lisa im Gerichtssaal zu Sophie hinüber, die auch jetzt wieder flennte, was das Zeug hielt, und jeder im
Saal glaubte sofort, dass Sophie an jenem Abend geheult hatte. Das zumindest schien sicher.
Lisa erklärte, dass die ganze schlechte Energie, die Holgers Tod an jenem Abend heraufbeschworen hatte, sich in Ernsts und
Sophies Streit entladen hätte, der darum ging, wer zuerst angerufen wird, die Eltern oder die Polizei. Und so wäre jede Energie,
die zu einer klaren, vernünftigen Handlung erforderlich gewesen wäre, irgendwann einfach verpufft gewesen. Alle wären nur
noch erledigt und erschöpft gewesen. Sie selbst, so Lisa, hätte sich nicht nur ausgekotzt gefühlt, sondern sei es ja auch
tatsächlich gewesen. Und sie müsse zugeben, dass alle mit der Situation einfach überfordert gewesen wären. Ja, das müsste
sie jetzt doch sagen und einräumen, alle wären nicht mehr zurechnungsfähig gewesen, alle völlig schockiert und total überfordert,
und man hätte darum die Nacht benutzen wollen, um zu ruhen und |149| erst am nächsten Morgen eine Entscheidung zu treffen. Deshalb hätte man Holger halt erst mal auf Eis gelegt und das wär
natürlich
eine Dummheit und ein Fehler gewesen, das würde sie
selbstverständlich
einsehen.
Der Richter hat kein Wort dazu gesagt. Er saß da, stoisch und undurchschaubar wie ein Fels, und überhaupt sahen heute alle
so aus, dass ich es sehr bedauerte in diesem Gerichtssaal, keinen Skizzenblock dabeizuhaben. Da saßen ein paar echte Gemälde
im Saal, Häupter, Antlitze und Fratzen, hinter denen Gewitter von verborgenen Gefühlen zuckten … also richtig klasse. Sehr
schöne Motive.
Der Richter forderte Lisa auf fortzufahren. Lisa sagte, man habe bald mein Verschwinden bemerkt, an jenem Abend, kurz nachdem
man Holger in die Gefrierkühltruhe gelegt hatte. Man habe sich in der darauf folgenden Zeit schwere Sorgen um mich gemacht.
Ich wäre nicht wieder nach Hause, also in meine Wohnung gekommen, und alle hätten sich geängstigt, dass ich mir was antun
würde. Erst die Bilder, dann Holger, und das alles auf meine geschundene, ach, was rede sie, auf meine nachgerade zerschundene,
sowieso schon von Haus aus labile Psyche, wie Lisa sagte, da wär man halt ungeheuer besorgt gewesen und heilfroh, als dann
dieses kleine Punkmädchen aufkreuzte, das ihnen den Weg zu mir gezeigt hätte.
Als sie dann aber alle in dem Abbruchhaus aufgekreuzt wären, hätte ich ihre wohlwollenden Absichten, mich nach Hause zurückzuholen,
offenbar missverstanden. Ich hätte in meiner zerschundenen Weltsicht plötzlich Angst vor ihnen bekommen, wäre aufs Dach gerannt
und hätte gedroht, mich herunterzustürzen.
Hier fragte der Richter Lisa, aus welchem Grund ich mich wohl vom Dach hätte stürzen wollen, aber Lisa erklärte es ihm: um
Holgers Tod zu
sühnen
. Ich hätte Lisa, Ernst und |150| Sophie, vor allem aber mich selbst emotional für Holgers Tod verantwortlich gemacht, einfach nur, weil wir dabei gewesen wären.
Und das hätte ich nicht ausgehalten und nicht weiter aushalten mögen. Anders könnte sie sich das jedenfalls nicht erklären,
und sie würde ja
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