Hengstgeflüster (German Edition)
wenig ungestümes Kerlchen, wenn man ihn nicht gerade zu Tode erschreckte. Was hatte dieser Chrispin bloß mit ihm angestellt, dass das Tier derart ausrastete?
Brutalität konnte es nicht gewesen sein, das hatte Bell trotz ihres verzweifelten Zustandes vorhin bemerkt. Ungeduld? Hatte er einfach zuviel verlangt? Das Tier war vollkommen durch den Wind und zutiefst verunsichert gewesen, als sie es in den Stall geführt hatte, in jene Box, an dem sein Namensschild hing. Tango hatte sich mustergültig und sanft verhalten. Ohne große Worte und Taten ihrerseits hatte er Bell respektiert. Wie ein unsichtbarer Schleier umgab sie diese einzigartige Aura. Nur Bell selber wollte nichts davon wissen. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie gerade jetzt von der Vergangenheit eingeholt wurde, warum gerade nun ihre Gabe wiederkehrte. Steckte sie nicht sowieso schon bis zum Hals in der Scheiße? War dies der ironische Versuch des Schicksals, um zu sehen, wie viel sie ertragen konnte?
Plötzlich sah sie ihn vor sich: Eduardo Torres, Star der kalifornischen Rodeoszene, Schwarm aller Frauen weit über die Grenzen Kaliforniens hinaus. Eduardo Torres, erfolgreicher Pferdezüchter, Vater und Schweinehund der ganz besonderen Sorte.
3. Kapitel
Bells Lippen verzogen sich qualvoll, als sie sich widerwillig zurückerinnerte. Bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag bettelte sie nahezu um die Gunst ihres Vaters. Ihre Mutter Kiera starb im Kindbett. Eduardo war ihre einzige Bezugsperson, ihr einzig lebender Verwandter.
Bell verehrte ihn. Ja, sie betete ihn an. Er war ihr großes Vorbild. Umso schmerzlicher war es zu fühlen, wie er angeekelt den Mund verzog, wenn sie sich in seiner Gegenwart aufhielt. Sie wusste, sie war zu dick, zu hässlich, zu unsportlich. Doch verzweifelt, wie die kleine Bell war, hörte sie nicht auf, um seine Gunst zu betteln.
Vermutlich nur um sie loszuwerden schenkte er Bell an ihrem elften Geburtstag eine junge Stute, die sie Dessie nannte und auf die sie nun ihre gesamte, überschwängliche Liebe konzentrierte. Nun begann der Anfang vom Ende.
Fassungslos musste Eduardo Torres mit ansehen, wie seine missratene Tochter aufblühte. Von Tag zu Tag wurde sie weiblicher, erwachsener und wuchs zu einer überaus attraktiven jungen Frau heran, die ihm so langsam nicht nur optisch, sondern auch im Umgang mit Pferden um Längen die Show stahl.
Ihr einzigartiges Gefühl für alle Lebewesen, ob Tier oder Mensch, war untrüglich, instinktiv und von einer beängstigenden Treffsicherheit. Sie schien von einer unsichtbaren, über alle Lebewesen erhabenen Aura von Liebe, Gerechtigkeit und einer herzlichen, niemals wertenden Zuneigung umgeben.
Eduardo hingegen war kein besonders sensibler oder gar rücksichtsvoller Mensch. Doch selbst er konnte sich ihrer besonderen Ausstrahlung nicht gänzlich entziehen. Von diesem Augenblick an begann er seine Tochter zu fürchten. Ihr Können. Ihre Gabe.
Im Laufe der Zeit würde sie das Ende seiner Karriere bedeuten, das wusste er so sicher wie das Amen im Gebet. Bell war eine ernstzunehmende Gegnerin und wurde für ihn von Tag zu Tag rufschädigender. Ja, neben ihr, seiner Tochter, kam er sich vor wie ein Tölpel, der nichts von Pferden verstand. Zuerst nahm Bell nur an kleinen, regionalen Reiningshows teil und zwar auf Eduardos Drängen hin. Er hatte gedacht, es konnte nicht schaden, wenn sie den Bekanntheitsgrad seiner Pferde und seiner anderen Dienstleistungen förderte. Außerdem war die Göre in letzter Zeit gar nicht so schlecht anzusehen. Doch mit der Zeit gewann sie wieder und immer wieder Wettbewerbe und arbeitete sich mit Verständnis, viel Beharrlichkeit und der Liebe zu den Pferden bis an die Spitze der kalifornischen Westerngarde empor, dass Eduardo Hören und Sehen verging.
Eines Tages war der Zeitpunkt gekommen. Nicht mehr er, Eduardo Torres, stand im Mittelpunkt des Interesses, sondern seine Tochter, die junge, bezaubernde Bell, die Tiere, Publikum und Preisrichter gleichermaßen verzauberte und allesamt in ihren außergewöhnlichen Bann zog.
Eduardo war seit jeher ein skrupelloser Geschäftsmann gewesen. Ja, er ging sprichwörtlich über Leichen.
Um dem ganzen Jubel um Bells Person Einhalt zu gebieten, nutzte er von da an ihre grenzenlose Gutgläubigkeit und kindliche Naivität für seine Sache.
Normalerweise vermied sie es standhaft, über ihre Kindheit nachzudenken, doch hier und jetzt schien diese ihr gar nicht mehr allzu fern. Jäh fühlte sie sich an jenen Tag
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