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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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still im Saal, als hätte eine göttliche Hand die Zeit angehalten. Niemand sprach, niemand rührte sich.
    »Ist es das, wofür ich es halte?«, fragte Gerold von Türkheim schließlich mit bebender Stimme. »Das Wort des Herrn in der profanen Sprache des Volkes?«
    »Ich habe den Abt der Augustiner zurate gezogen, um sicherzugehen«, erwiderte Remser. »Ja, es ist eine verbotene Verunglimpfung der Heiligen Schrift. Das ist Ketzerei. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr: Der Henker von Esslingen steht mit dem Teufel im Bunde.«
    Tumult brach aus. Alle redeten durcheinander. Erst nach einer Weile gelang es Karl Schedel, sich Gehör zu verschaffen, indem er mit einem Humpen auf den Tisch schlug, dass es krachte. »Ich weiß, Ihr seid empört, werte Ratsherren!«, rief er. »Und dies zu Recht. Es verstößt gegen die Gebote der heiligen Kirche, die Heilige Schrift in unserer Sprache zu besitzen. Melchior hat sich schwer versündigt. Und ein ketzerischer Henker ist eine Schande für Esslingen. Eins wundert mich jedoch: Es ist ohnehin äußerst ungewöhnlich, dass ein junger Mann von solch niedriger Herkunft wie Melchior des Lesens und Schreibens kundig ist. Doch wo sollte er auch noch die lateinische Sprache gelernt haben?«
    »Das war ja wohl nicht vonnöten. Da hatte er ja mit seiner Ketzerbibel vorgesorgt«, rief Henner Langkoop dazwischen.
    »Eben«, sagte Waldemar Guirrili mit verschlagenem Grinsen. »Wenn er des Lateinischen nicht mächtig ist, dann muss jemand anders die Übersetzung angefertigt haben.«
    »Der Ketzer muss ausfindig gemacht werden!«, brüllte Langkoop.
    Sempach räusperte sich. Diese Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen. »Ich könnte mich umhören, ob es Personen von entsprechender Bildung gibt, die mit Melchior Umgang pflegten.«
    »Mit dem Henker?«, stieß Langkoop hervor. »Wer sollte denn mit diesem Ungeziefer Umgang pflegen?«
    »Ihr würdet Euch wundern, Langkoop. Ich habe gehört, dass eine ganze Reihe angesehener Bürger auf seine Heilkünste schwören.« Sempach faltete die Hände und drückte die Finger durch. »Man müsste natürlich die Befugnis haben, Verdächtige auch mit den entsprechenden Methoden zu befragen.«
    »Wir wollen doch nichts überstürzen«, warf Karl Schedel ein. »Das Pergament mit der ketzerischen Übersetzung könnte Melchior auch aus seiner Heimat mitgebracht haben.«
    Niemand beachtete Schedel. Stattdessen erhob sich Guirrili aufgeregt. »Meister Henrich, der Bierbrauer«, sagte er. »Meine Frau hat mir erzählt, er habe sich vor Jahren sein verletztes Bein von dem alten Raimund Magnus behandeln lassen.«
    »War er nicht auch derjenige, der uns von Raimunds Tod in Kenntnis gesetzt hat?«, fragte Enders von den Fildern. »Woher wusste er überhaupt davon?«
    »Gut.« Johann Remser klopfte mit dem Richterstab auf den Tisch. »Sempach, Ihr leitet die Untersuchung bezüglich der Ketzerbibel. Doch Ihr müsst diskret vorgehen. Der Abt der Augustiner schuldet mir noch einen Gefallen, deshalb wird er vorläufig schweigen, doch wenn die Dominikaner von der Angelegenheit Wind bekommen, haben wir das Inquisitionsgericht in der Stadt, ehe wir uns versehen.«
***
    Melisande wickelte ihr Kleid fester um sich, doch die Kälte ließ sich nicht vertreiben. Bei Sonnenuntergang hatte sie sich ein Stück abseits der Straße im Wald ein Nachtlager bereitet. In einer Erdkuhle hatte sie das bunte Henkersgewand als Unterlage ausgebreitet, ihr altes Mädchenkleid diente ihr als Kissen. Sie hatte das restliche Wasser aus ihrem Schlauch getrunken, einen Kanten Brot gegessen und sich niedergelegt. Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Die alles verschlingende Angst, die seit ihrem Entschluss zu fliehen ihr ständiger Begleiter war, ließ sie nicht zur Ruhe kommen.
    Neben ihr raschelte es. Melisande fuhr hoch und blickte in die schwarzen Augen eines Hasen. Dann wandte das Tier sich ab und hoppelte den Hang hinunter in Richtung Neckar. Auf der leeren, mondbeschienenen Landstraße verharrte es, witterte, streckte seine Löffel in die Luft.
    Von der Seite vernahm Melisande ein Rauschen. Flieh, dachte sie, flieh! Doch der Hase zögerte einen Herzschlag zu lang. Ein Schatten tauchte wie aus dem Nichts über ihm auf und stürzte zu Boden. Ein schriller Laut, der Melisande durchzuckte wie körperlicher Schmerz. Kurz darauf erhob sich ein mächtiger Uhu von der Landstraße, in seinen Klauen das leblose Opfer.
    Eine Weile war Melisande unfähig, sich zu rühren. Der Uhu und der

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