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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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weiterziehst.«
    Schwerfällig erhob sich Melisande. Ihre Glieder waren jetzt ebenso steif und verkrampft wie ihr Hals. Hastig packte sie ihre Sachen zusammen und schnürte ihr Bündel, bevor der Mann merkte, dass ihre Schlafunterlage in Wahrheit das Gewand eines Henkers war. Sie stolperte hinter ihm ins Freie, wo ein Schleier aus dichtem Regen ihr erneut die Sicht raubte. Halb blind folgte sie dem Mann in ein kleines Haus aus Stein, aus dessen Kamin eine dünne Rauchsäule aufstieg.
    »Hast du das Lumpenpack erwischt?«, tönte ihnen eine harte Stimme entgegen. Eine ältere Frau stand am Herdfeuer und rührte mit sehnigen Armen in einem kleinen Topf.
    »Ich hab’s gleich mitgebracht«, erwiderte ihr Mann.
    »Hermann!« Die Frau fuhr herum, erblickte Melisande und hob fragend die Brauen. »Wer bist du denn, Kind?«
    »Das ist die Mechthild. Weigelins Schwester hat sie als Magd hergeschickt. Sie weiß wohl noch nicht, was geschehen ist.«
    Die Frau schüttelte den Kopf, eine graue Strähne löste sich unter der weißen Haube und fiel ihr ins Gesicht. Ihre Stimme wurde wärmer. »Du musst zurückkehren, Kind. Hier gibt es keine Arbeit für eine Magd. Hermann und ich sind die Einzigen, die geblieben sind, und das bisschen, was wir zum Leben haben, reicht kaum für uns zwei. Du kannst ein wenig Haferbrei mit uns essen, um dich für deinen Weg zu stärken.« Sie deutete auf einen Tisch, an dem zwei roh gezimmerte Schemel standen. Darunter hockten zwei magere braune Hühner und pickten im Stroh nach Krümeln. »Nimm Platz.« Sie schaute ihren Gemahl an. »Und was ist mit dem Dieb? Hast du ihn erwischt?«
    Hermann schüttelte den Kopf. Jetzt, wo Melisande ihn in Ruhe betrachten konnte, sah sie, wie alt er war. Vermutlich hätte sie ihm die Mistgabel mit einer kräftigen Bewegung aus der Hand schlagen können.
    »Der Bursche ist mir entwischt. Drei Eier und einen halben Schinken hat er erbeutet. Ich habe ihn entdeckt, als er gerade einen Blick in das Kelterhaus geworfen hat. Vermutlich hat er sich falsche Hoffnung auf einen guten Tropfen Wein gemacht. Als ich hinzukam, hat er Reißaus genommen.« Er musterte Melisande argwöhnisch. »Vielleicht hat er aber auch gar keinen Wein gesucht, sondern seine Gefährtin. Er gehört doch wohl nicht zu dir, oder?«
    »Nein, ich bin allein unterwegs.«
    Hermann kniff nachdenklich die Augen zusammen. Er schien nicht überzeugt, setzte zum Sprechen an, doch seine Frau stellte den Topf auf den Tisch, und so sagte er nur ein kurzes Tischgebet auf.
    Der Brei war klebrig und ohne rechten Geschmack, doch Melisande fiel darüber her, als hätte sie einen Fasanenbraten vor sich stehen. Im Nu war das Gefäß leer. Melisande seufzte leise und betrachtete ihren Löffel, an dem noch ein wenig Brei klebte. »Was ist denn passiert, dass alle fortgezogen sind?«
    »Viel Unheil ist geschehen«, erwiderte die alte Ida bitter. »Manche sagen, ein Fluch liege über dem Weigelin-Hof.«
    »Das ist doch Unsinn, Weib. Musst du diesen Unfug nachplappern?«, murrte Hermann und verschränkte seine Arme vor der Brust.
    »Unheil ist Unheil. Ich spreche nur aus, was offenbar ist.«
    »Meinetwegen«, brummte Hermann, »aber lass mich damit in Ruhe. Ich sehe derweil nach den Fellen. Ein Glück, dass der Kerl die nicht gefunden hat.« Er erhob sich und trat hinaus in den Regen. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Wenn ich wiederkomme, will ich dich nicht mehr sehen, Mechthild, oder wie auch immer du tatsächlich heißen magst. Solche wie dich können wir hier nicht gebrauchen. Eine Frau ganz allein unterwegs – das kann nichts Gutes bringen.«
    Melisande ließ den Kopf hängen.
    Die Frau tätschelte ihr die Hand. »Nimm’s ihm nicht übel, Kind. Er meint es nicht böse. Er grämt sich, weil das Schicksal uns so arg mitgespielt hat. Früher war er ein angesehener Rotgerber hier auf dem Fronhof, hat das Leder für die Sättel, das Zaumzeug und das Schuhwerk hergestellt. Und ich habe als Magd im Herrenhaus gearbeitet.« Sie seufzte. »Alles fing damit an, dass der kleine Sohn vom Weigelin in den alten Brunnen gestürzt ist. Keiner hat gesehen, wie es passiert ist, drei Tage haben wir nach ihm gesucht. Als wir ihn schließlich fanden, war er tot. Sein Vater ist wahnsinnig geworden vor Schmerz. Der Junge war sieben und sein einziger Sohn. Im folgenden Winter begann das Sterben. Ein Fieber ging um und raffte fast die Hälfte der Menschen hinweg, die auf dem Hof lebten. Im folgenden Frühjahr hatten wir nicht

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