Henkerin
den Mord, den man ihm vorwarf, nicht begangen, dennoch hatte er sich wie ein dummer Junge verhalten. Er war unvorsichtig gewesen, hatte sich übertölpeln lassen. Sein größter Fehler war gewesen, Antonius fortzuschicken. Nein, sein größter Fehler war gewesen, Ottmar de Bruce zu vertrauen. Was hatte er dem Grafen nur angetan, dass dieser sich so grausam an ihm rächte? Oder war er dem mächtigen Mann bei irgendetwas im Weg?
Seit Tagen versuchte Wendel, sich zu erinnern, an die Brautschau und an den seltsamen Morgen danach. Manchmal tauchten Bilder vor seinem inneren Auge auf, die er nicht zuordnen konnte: eine steile, nur schwach von Fackeln erleuchtete Stiege, eine lange Reihe Fässer, seltsame Tiegel und Töpfe. Doch vielleicht spielte ihm sein Gedächtnis einen Streich, mischten sich Bilder aus dem Kerker und der Folterkammer mit Erinnerungen an die Adlerburg. In der letzten Woche war so viel geschehen. In seinem Kopf wurde die Adlerburg zum Esslinger Verlies, die Folterkammer im Schelkopfstor zu Ottmar de Bruce’ Schlafgemach und der Henker zu einer weiß gewandeten Erscheinung mit wehend rotem Haar, die ihre blutbesudelten Finger nach ihm ausstreckte.
Immer wenn er an den Kerker dachte, brach ihm der Schweiß aus, manchmal musste er sich erbrechen, und seine Glieder wollten ihm nicht mehr gehorchen. Zugleich war ihm die Erinnerung an die Tage, die er dort verbracht hatte, entglitten. Die Bilder in seinem Kopf waren verschwommen, merkwürdig verzerrt. Nicht einmal das Gesicht des Henkers sah er klar vor sich, obwohl sich dessen Züge doch eigentlich für alle Zeiten in sein Gedächtnis hätten einprägen müssen.
Der Wundarzt hatte seinen Arm versorgt und seine Füße untersucht. »Macht Euch keine Sorgen, Wendel«, hatte er gesagt, »das wird schon. Bald hüpft Ihr wieder herum wie ein junges Reh.«
Wendel hatte ihm kein Wort geglaubt. Allein die Vorstellung, herumzuhüpfen, bereitete ihm Höllenschmerzen. Wenn er sich zur Grube im Hof schleppte, um seine Notdurft zu verrichten, stach es in seinen Füßen, als würde er über tausend Nägel laufen. Jeder Schritt war mit unvorstellbaren Qualen verbunden, aber tragen lassen wollte er sich dennoch nicht.
Es klopfte an die Tür, seine Mutter trat ein, ein Tablett in den Händen. »Du bist wach, mein Sohn!«, rief sie und lachte leise. Katherina Füger stellte das Tablett ab, setzte sich zu ihm und strich ihm über die braunen Locken. »Geht es dir besser?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, das Fieber ist etwas heruntergegangen.«
Rasch legte sie ihm die Hand auf die Stirn. »Ja, es ist tatsächlich gesunken. Dein Vater wird sich freuen, das zu hören.«
»Vater ist sicherlich sehr wütend auf mich.« Wendel senkte den Blick.
Seine Mutter fasste ihn am Kinn und sah ihm in die Augen. »Unsinn, mein Junge. Er ist überglücklich, dass du lebend heimgekehrt bist.«
»Die Esslinger werden darauf bestehen, mir den Prozess zu machen.«
Jetzt senkte Katherina den Kopf. »Ein Bote ist gestern gekommen. Der Rat der Reichsstadt Esslingen fordert deine sofortige Auslieferung.«
Wendel wusste, wie sehr das seine Mutter mitnahm. Katherina Füger hatte acht Kinder geboren, doch nur er hatte überlebt. Alle seine Geschwister waren wenige Tage nach der Geburt gestorben. Fast alle. Elisabeth, seine zwei Jahre jüngere Schwester, war kurz vor ihrem dritten Geburtstag umgekommen. Wendel krallte die Finger in die Bettdecke. »Was soll nun werden?«
Katherina strich ihm über die Wange. »Ich weiß es nicht, mein Kind.« Sie griff nach dem Becher, der auf dem Tablett stand. »Erst einmal musst du gesund werden. Trink.«
Wendel nahm den Becher und genoss das heiße, süße Getränk, das sich in seinem Bauch ausbreitete. Schritte polterten die Treppe hinauf, und schon kam sein Vater durch die Tür. »Wendel, wie gut, dich so wohlauf zu sehen. Das Fieber ist fort?«
Wendel lächelte schwach. »Ich fühle mich nicht schlecht, aber für eine Reise nach Urach reicht es noch nicht.«
Erhard Füger schlug sich auf die Schenkel und zeigte dann mit beiden Händen auf Wendel. »Na bitte, wenn er schon wieder Scherze machen kann, ist er so gut wie gesund. Und die Neuigkeiten aus dem Rat werden seine Genesung beschleunigen.« Er machte eine Pause.
Wendel verdrehte die Augen.
»Wir haben einstimmig beschlossen, dich nicht auszuliefern. Wir werden den Fall hier untersuchen, und nach den vorliegenden Umständen glaubt niemand daran, dass du etwas mit den Tod des armen
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