Henkerin
»Wir suchen einen entlaufenen Missetäter«, erklärte er nun mit deutlich entspannter Stimme.
Melisande stockte der Atem. Nur einen? Was war mit Wendel? Hatten sie ihn etwa gefasst? Oder hatte er es bis nach Reutlingen geschafft?
»Einen mageren kleinen Burschen«, fuhr Utz fort. »Mit feuerrotem Haar.«
Idas Blick schoss zu Melisande, doch den Reitern schien das nicht aufzufallen.
»Was hat der Bursche denn ausgefressen?«, fragte Hermann.
»Er wird wegen unerlaubten Verlassens der Stadt gesucht«, sagte Utz. »Und wegen Ketzerei.«
»Ihr sucht einen Ketzer?« Ungläubig runzelte Hermann die Stirn. Die meisten braven Bürger beteiligten sich ungern an der Ketzerjagd der Kirche. Im Gegenteil, so mancher Inquisitor, der es zu arg trieb, lebte gefährlich. Den übereifrigen Konrad von Marburg hatte man auf offener Straße erschlagen.
Utz schob das Kinn vor. »Bei dem Flüchtigen handelt es sich um den Scharfrichter der Reichsstadt Esslingen. Der Mann ist gefährlich und schreckt vor keiner Bluttat zurück. Er steht mit dem Teufel im Bunde, hat einem Mörder zur Flucht verholfen. Wer immer ihm beisteht oder ihn beherbergt, macht sich einer schweren Straftat schuldig.« Utz’ Pferd schnaubte, als wolle es die Worte seines Herren bekräftigen.
Ida schlug die Hände vor den Mund. Hermann rieb sich den Arm und beäugte Melisande verstohlen von der Seite.
Sie hielt den Atem an. Das bunte Gewand! Hatte der Alte gesehen, wie sie es in ihrem Bündel verstaut hatte? Dann aber wandte sich Hermann Utz zu und breitete die Arme aus. »Es ist niemand hier außer uns dreien, Herr. Ihr könnt Euch gern umsehen.«
Utz machte seinen beiden Begleitern ein Zeichen, und sie ritten das Gelände ab, lugten durch Türen und Fensteröffnungen in jedes Haus, jede Hütte. Utz blieb zurück. »Warum bist du nicht mit den anderen fortgezogen?«, fragte er Hermann. »Wie soll denn deine hübsche Tochter hier in der Einsamkeit einen Gemahl finden?« Er musterte Melisande abschätzend. »Warum trägst du eine Haube, Mädchen? Du bist doch nicht vermählt, oder?«
Melisande senkte den Blick. »Mein Gemahl ist gestorben«, flüsterte sie, »am Fieber.« Sie schickte ein Stoßgebet zum Herrgott, dass die beiden Alten ihrer Lüge nicht widersprachen.
Utz schnalzte mit der Zunge. Melisande brach der Schweiß aus. Niemand hatte sie so schamlos angeglotzt, so von oben herab behandelt, als sie noch der von allen gefürchtete Meister Hans gewesen war.
In dem Augenblick kamen die beiden anderen Reiter von ihrem Erkundungsritt zurück. »Keine Menschenseele hier«, erklärte einer. »Die meisten Häuser sind leer und verfallen. Der Alte sagt wohl die Wahrheit.«
Utz nickte. Er löste seinen Blick von Melisande und wandte sich an Hermann. »Solltest du den Henker sehen, gib den Urachern Bescheid. Der Kerl ist besessen und gehört auf den Scheiterhaufen.« Ein letztes Mal gaffte er Melisande an, dann wendete er sein Pferd und preschte ohne einen Gruß davon. Seine beiden Begleiter folgten ihm.
Hermann starrte den Reitern hinterher, dann drehte er sich zu Melisande. Sein Blick verhieß nichts Gutes. »Wer bist du?«
Melisande trat einen Schritt auf ihn zu und sah ihm fest in die Augen. »Ich bitte Euch, zwingt mich nicht, meine Geschichte zu erzählen. Aber ich schwöre beim Leben meiner ermordeten Familie, dass ich nichts Böses im Schilde führe, dass ich nichts Unrechtes getan habe.«
Er erwiderte ihren Blick. Nach einer kleinen Ewigkeit schlug er die Augen nieder. »Was auch immer du zu verbergen hast, Mädchen, deine Augen sind ehrlich, daran hat sich nichts geändert. Ich kann kein Falsch darin entdecken. Solltest du aber Unheil über uns bringen, dann werde ich dich eigenhändig erwürgen.«
***
Wendel fuhr aus dem Schlaf hoch. Draußen war es taghell. Verwirrt blickte er um sich, dann erkannte er das Haus seines Vaters. Erleichtert sank er auf das Lager zurück. Er war in seinem Bett in seinem Elternhaus. In Reutlingen. In Sicherheit.
Erschöpft fuhr er sich über die nasse Stirn. Seit er vor dem Stadttor zusammengebrochen war, litt er an hohem Fieber. Jeden Tag kam der Medicus vorbei und ließ ihn zur Ader. Seine Mutter flößte ihm stündlich heißen Kräutertee ein, und sein Vater saß Stunde um Stunde stumm an seinem Bett und hielt ihm die Hand. Im Augenblick war Wendel allein, und er war froh darüber. Es war ihm unangenehm, dass er den Menschen um sich herum so viele Umstände bereitete. Er fühlte sich schuldig. Er hatte zwar
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