Henkerin
sie nur die Schattenseiten des Lebens zu sehen bekommen. Umso mehr genoss sie nun jede noch so einfache Verrichtung auf dem Fronhof.
Gestern war sie mit Ida losgezogen, um Heilkräuter zu suchen. Die alte Frau hatte erstaunt bemerkt, dass Melisande tatsächlich viel von Heilkunde verstand, sogar so manches Kraut und dessen Wirkung kannte, von dem sie selbst nie gehört hatte.
Von Hermann wiederum hatte Melisande einiges über das Handwerk des Ledergerbens gelernt. Er hatte ihr vorgeführt, wie die grünen Häute in den Kalkäscher eingelegt wurden, wie man sie danach abspülte und abschabte. Er hatte ihr die zwei mit Holz ausgeschlagenen Gruben neben dem kleinen Bach gezeigt, wo er früher die großen Rinderhäute in die Lohe gehängt hatte. Viele Monate mussten sie dort verweilen, bevor der Gerbprozess abgeschlossen war. Heute, wo er nur noch die kleinen Häute der Wildtiere bearbeitete, verwendete Hermann dazu Fässer, die er erhitzte und hin- und herrollte, damit die Lohe ihre Wirkung entfalten konnte. Als Hermann noch der Rotgerber des Fronhofs gewesen war, hatte er die Häute, nachdem sie an der frischen Luft abgetropft waren, auf dem Trockenboden des Gerberhauses aufgehängt. Doch der war längst eingefallen, nur noch das untere Stockwerk des Gebäudes konnte er nutzen. Deshalb hing er die Felle in der Stube des ehemaligen Herrenhauses auf. Melisande ging ihm gern zur Hand, und sie stellte sich so geschickt an, dass Hermann schon bald sein Misstrauen verlor.
An den Abenden hatte Melisande damit begonnen, die ehemalige Schmiede in Ordnung zu bringen, das Gebäude, das neben dem großen Haupthaus und dem Haus, das Ida und Hermann bewohnten, noch am besten erhalten war. Sie hatte die Tür eingehängt, den Boden gekehrt und mit frischem Stroh ausgestreut und die Fensterluke mit einem Laden versehen. In einer Ecke hatte sie sich ein Lager aus einem Strohsack bereitet, in der anderen hatte sie einen kleinen Tisch und einen Schemel aufgestellt, die sie im alten Wohnhaus gefunden hatte. Aus ein paar losen Brettern, die einmal Teil der Kelter gewesen waren, hatte sie eine kleine Truhe für ihre Habseligkeiten gezimmert. Allerdings fehlten ihr sowohl ein Deckel als auch ein Schloss. Wirklich sicher würde die Truhe aber auch dann nicht sein, deshalb hatte sie beschlossen, bei nächster Gelegenheit ein Versteck im Wald zu suchen, wo sie die Gegenstände aufbewahren konnte, die nicht für fremde Augen bestimmt waren. Bis dahin hatte sie alles in der alten Mühle versteckt.
Ida hatte angekündigt, bald mit Melisande ins Tal nach Urach hinabzusteigen, um auf dem Markt ein paar Einkäufe zu tätigen. Vermutlich wollte sie bei der Gelegenheit mit ihrer neuen Magd angeben.
Melisande war unwohl bei diesem Gedanken – je weniger Aufsehen sie erregte, desto besser. Andererseits war der Besuch in der Stadt eine gute Gelegenheit, Neuigkeiten zu erfahren. Sie trat zur Waschschüssel, benetzte ihr Gesicht mit Wasser und tupfte es trocken, danach streifte sie ihr Kleid über.
Am Brunnen standen die Eimer bereit, die sie auffüllen sollte. Rasch machte sie sich an die Arbeit. Als die beiden Eimer gefüllt waren, setzte sie sie ab und drückte ihr Rückgrat durch. Sie lauschte. Eben noch hatten die Vögel gesungen, doch nun lag mit einem Mal eine unheimliche Stille über den Feldern.
Gerade wollte sie wieder nach den Eimern greifen, als sie ein dumpfes Grollen vernahm. Kurz darauf ertönten Rufe und das Schnauben von Pferden. Erschrocken hielt sie inne. Ob das wieder ein Suchtrupp aus Esslingen war? Hoffentlich. Auch wenn dieser Utz unangenehme Erinnerungen in ihr wachgerufen hatte, waren diese Männer doch harmlos gewesen. Ein Trupp versprengter Söldner oder Räuber hätte vermutlich den Hof geplündert und sich an ihr vergangen.
Schon erschienen am Tor Reiter. Melisande zählte fünf Männer. Hastig blickte sie sich um, um zu sehen, ob Hermann in der Nähe war, doch sie konnte ihn nirgends erblicken. Vermutlich hatte er im Gerberhaus zu tun. Am Abend hatte er davon gesprochen, dass er gleich morgens Häute zum Trocknen aufhängen wollte.
Die Männer zügelten die Pferde und ließen sie langsam auf den Hof traben. Sie trugen leichte Rüstungen, die im Licht der Morgensonne funkelten. Ihr Anführer war ein muskulöser blonder Hüne mit kantigem Gesicht. Als er näher kam, hätte Melisande vor Schreck beinahe laut aufgeschrien. Sie kannte den Mann, wusste sogar seinen Namen: Eberhard von Säckingen, Hauptmann des Grafen Ottmar
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