Henkerin
fast die Augen aus dem Kopf gefallen.
Melisande lief durch das Tor und machte ein paar Schritte auf den Wald zu. Sie drehte sich um und sah Hermann, der gerade im Gerberhaus verschwand. Das war die Gelegenheit, ein Versteck für ihre Habseligkeiten zu suchen. Rasch machte sie kehrt und rannte zur Mühle. Der Eingang war nicht mehr zugewachsen, denn von Säckingens Männer hatten ihn mit ihren Schwertern freigeschlagen. Aber da sie nach einem Menschen gesucht hatten, nicht nach einem kleinen Bündel, hatten sie Melisandes Schätze nicht gefunden. Rasch stopfte sie die Sachen in den Korb, schnallte ihn wieder auf den Rücken und verließ die Mühle.
Der Wald war noch feucht und so kühl, dass Melisande fröstelte. Es duftete nach Harz und jungem Grün. Sie ging langsam, prägte sich auffällige Bäume ein, anhand derer sie später nicht nur den Rückweg, sondern auch ihr Versteck jederzeit wiederfinden würde. Eigentlich sollte sie hier am Waldsaum bleiben, immer in Sichtweite des Hofs, das hatte Hermann ihr eingeschärft. Doch wenn sie einen guten Platz für ihre Habe finden wollte, musste sie sich ein Stück tiefer ins Unterholz kämpfen.
Melisande lief immer weiter und merkte erst nach einer geraumen Weile, dass die Sommerhitze inzwischen auch die Tiefen des Waldes erreicht hatte. Erschrocken hielt sie inne. Viel zu lange war sie schon unterwegs. Sie versuchte, den Stand der Sonne auszumachen, doch das Unterholz war zu dicht. Aufmerksam blickte sie sich um. Rechts von ihr fiel der Hang steil ab, unter ihr im Tal musste Urach liegen. In der Nähe gurgelte ein Bach. Sie folgte dem Geräusch und entdeckte das Gewässer. Gierig trank sie ein paar Schlucke und setzte sich auf einen Stein. Sie musste sich beeilen, sicherlich warteten Hermann und Ida schon ungeduldig.
Einen Augenblick noch wollte sie verharren. Melisande streckte die schmerzenden Füße aus und genoss die Stille. Ihr Blick fiel auf ein Gestrüpp, das sich um einen blanken Fels rankte. Behutsam bog sie die Zweige zur Seite. Tatsächlich. Hinter dem Gestrüpp öffnete sich der Fels zu einer kleinen Höhle. Melisande kroch vorsichtig hinein. Die Höhle war eng, sie schaffte es gerade, sich im Inneren zusammenzurollen und die Zweige zurück an ihren Platz gleiten zu lassen. Eine Weile lag sie still. Es duftete nach Erde. Kein Tiergeruch. Also wurde die Höhle nicht als Bau genutzt. Gut so. Sie hatte keine Lust, einen Dachs oder einen Wolf aufzuschrecken, wenn sie ihre Habseligkeiten irgendwann einmal holen kam.
Melisande krabbelte durch das Gestrüpp zurück nach draußen, nahm ihre Sachen aus dem Korb und wickelte sie sorgfältig in das Henkergewand. Sanft strich sie über den bunten Stoff. »Ich vermisse dich, Raimund Magnus«, flüsterte sie.
Bevor die Tränen kamen, packte sie das Bündel, kroch zurück in die Höhle, legte es in die hintere Ecke und deckte es mit einigen flachen Steinen zu, sodass es nicht mehr zu sehen war.
Dann machte sie sich auf den Rückweg. Einmal lief sie nach einer verkrüppelten Buche in die falsche Richtung, doch sie bemerkte ihren Fehler schon nach wenigen Schritten. Als der Wald lichter wurde, begann sie nach Eichen Ausschau zu halten. Sie wurde schnell fündig. Spuren an den Stämmen verrieten, dass Hermann sich hier offenbar schon häufiger bedient hatte.
Sie zog ihr Messer hervor und stach es in die Rinde. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie sie Wendel die Haut am Arm aufgeschlitzt hatte, und sie zuckte zurück. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Was wohl aus ihm geworden war? Ob er überhaupt noch lebte? Auf seine Art war der Reutlinger sehr tapfer gewesen. Tapfer und aufrecht. Selbst wenn er es heil bis in seine Heimatstadt geschafft hatte, ging es ihm mit Sicherheit nicht besonders gut. Er musste unter schrecklichen Schmerzen leiden.
D IE H EILERIN
Die Hitze des Tages flimmerte noch in Wendels Schlafkammer, doch durch das Fenster wehte eine Abendbrise hinein und kühlte seine fiebrige Stirn. Nach der Auseinandersetzung mit seinem Vater war er erschöpft ins Bett zurückgekehrt und in einen tiefen Schlaf gefallen. Als er erwachte, war das Fieber zurückgekehrt. Aufgeregt hatte Erhard Füger nach dem Medicus rufen lassen, der mit strengem Blick erklärt hatte, dass dem Patienten ab sofort jede Aufregung erspart bleiben solle. Er hatte Wendel zur Ader gelassen und ihm strenge Bettruhe verordnet. Seine Mutter hatte bis zum Morgengrauen bei ihm gewacht, bis eine Magd sie ablöste. Das Mädchen saß
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