Henkerin
getuschelt, doch niemand betrug sich ihr gegenüber misstrauisch oder feindselig. Überall wurde angenommen, Mechthild habe zuvor als Magd im Haushalt der Schwester des Paulus Weigelin in Esslingen gearbeitet, und Melisande hütete sich davor, diese Geschichte zu korrigieren.
Bereits bei ihrem ersten Besuch hatte sie von den geschwätzigen Marktfrauen erfahren, dass der Reutlinger Weinhändlersohn, der in Esslingen des Mordes angeklagt war, aus dem Kerker geflüchtet und heil in sein Vaterhaus zurückgekehrt war. Natürlich gab es die wildesten Gerüchte darüber, wie dem jungen Mann die Flucht gelungen war. Manche sagten, er sei auf dem Rücken einer Hexe aus der Stadt geflogen. Angeblich wohnte in der Fischergasse ein alter Mann, der den Hexenritt des Wendel Füger mit eigenen Augen gesehen hatte. Andere behaupteten, der Reutlinger sei mit dem Teufel im Bunde, der ihm die Kraft verliehen habe, durch Wände und Mauern zu gehen. Deshalb habe er sich auch mit dem Henker verbündet, denn der sei bekanntermaßen ein Diener Satans. Es gab natürlich auch vernünftige Stimmen, die vermuteten, dass eine Menge Geld den Besitzer gewechselt hatte, um diese ungewöhnliche Flucht zu ermöglichen. Einige hielten es sogar für denkbar, dass der angebliche Mörder, den sie in Ulm geschnappt hatten, das Bauernopfer war, denn irgendwer musste ja für das Verbrechen hingerichtet werden, und die Reutlinger waren bekannt dafür, unangenehme Wahrheiten mit ausreichend Münzen aus der Welt zu schaffen.
Melisande hätte jeden Eid darauf geschworen, dass der Karcher unschuldig war. Ob der Richtige für die Tat hatte büßen müssen? Das konnte sie nicht sagen, denn sie wusste, dass es keinen Menschen gab, der nicht früher oder später unter der Folter zusammenbrach.
Am nächsten Tag war es wieder an der Zeit, Rinde zu schneiden. Die Vorräte gingen zur Neige, und es gab noch viele Felle, die auf die Lohe warteten. Diesmal musste Melisande weiter laufen als je zuvor, denn Hermann hatte gehört, der Markvogt lasse die Wälder besonders streng kontrollieren. Seine Männer sollten lieber nicht in unmittelbarer Nähe des Fronhofes auf entrindete Stämme stoßen, denn in diesem Fall würde der Verdacht unweigerlich auf Hermann fallen. Und die Strafen für Waldfrevel waren streng, vor allem in den Wäldern um Urach, wo der Holzhandel eine wichtige Einkommensquelle für den Vogt und die Stadt war.
Melisande gelangte an einen Aussichtspunkt, von dem aus sie das Elsachtal überblicken konnte. Es war ein nebeliger Frühherbstmorgen, und über dem Tal hingen weiße Schleier. Melisande sah, wie ein Händlerzug, der sich von Urach her auf die Ulmer Steige zubewegte, mehrmals unvermittelt im Dunst verschwand und wenige Augenblicke später wieder auftauchte, jedes Mal ein Stück näher. Es waren acht Wagen, gezogen von jeweils zwei Gäulen, die sich mit ihrer schweren Last sichtlich abmühten. Rechts und links der Wagen bewegten sich Männer, einige zu Pferd, andere zu Fuß, die Reiter in leichter Rüstung. Es waren offenbar Kaufleute, die sich von ihren Knechten begleiten ließen. Zusätzliche Bewaffnete oder Ersatzpferde schien der Zug nicht mit sich zu führen. Vermutlich ging es nur bis Feldstetten oder Laichingen, doch auch eine solche Reise war ohne den Schutz von Söldnern ein Wagnis.
Als der Zug um die Biegung verschwunden war, verließ Melisande ihren Aussichtspunkt und lief hinunter ins Tal. Sie nahm die kleine Holzbrücke über die Elsach, die hier weniger als sechs Fuß breit war. Vom anderen Ufer aus stieg sie einen schmalen Holzfällerpfad hinauf, der sich parallel zur Ulmer Steige auf den Gipfel nach Eberstetten schlängelte. Auf halber Höhe erreichte sie einen Felsvorsprung, von dem aus man einen guten Blick auf die Steige hatte. Melisande kletterte auf den Fels, um ein wenig zu verschnaufen, und blickte hinab auf die Steige. Etwa einen halben Bogenschuss unter ihr ächzten die schweren Wagen die Anhöhe hinauf, weiß dampfte der Atem vor den Mäulern der Zugtiere, schneidend klang das Knallen der Peitschen durch die Luft. Die Reiter gingen am Anfang und am Ende des Zugs, immer zu zweit, denn die Straße war schmal.
Die Pferde. Die Reiter. Die Wagen. Das Sirren der Pfeile. Die Schreie der Getroffenen. Das Blut, das viele Blut. Unvermittelt begann Melisande zu zittern. Zugleich schalt sie sich eine Närrin. Warum hatte die Vergangenheit immer noch solche Macht über sie?
Ein Schwarm Krähen flog auf. Melisande erschrak. Eines der
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