Henkerin
Pferde scheute, und sein Reiter hatte Mühe, es wieder zur Ruhe zu bringen. Im nächsten Augenblick prasselten Pfeile auf den Kaufmannszug hinab. Einige Männer stürzten sofort von den Pferden, die übrigen zogen ihre Schwerter und blickten sich mit angstgeweiteten Augen um. Rufe wurden laut, eines der Pferde ging durch und stob die Steige hinab, seinen toten Reiter, dessen Fuß sich im Sattelgurt verfangen hatte, schleifte es hinter sich her.
Von allen Seiten stürmten schwer bewaffnete Reiter aus dem Wald. Es waren mindestens drei Dutzend. Sie trugen dunkle Rüstungen, damit sie das Sonnenlicht nicht verriet, kein Wimpel gab Auskunft, welchem Herrn sie dienten.
Raubritter, schoss es Melisande durch den Kopf, das müssen Raubritter sein.
Ein Teil der Angreifer stürzte sich auf die Knechte, die den Zug zu Fuß begleiteten, und metzelten sie nieder. Die übrigen Raubritter griffen die berittenen Kaufleute an, die sich verzweifelt zur Wehr setzten.
Die Schlacht tobte nur kurz. Die Angreifer waren in der Überzahl und erprobte Krieger.
Als die Kaufleute und ihre Knechte reglos am Boden lagen, glitten einige der Raubritter von den Pferden und machten sich daran, den Toten die Beutel vom Gürtel zu schneiden und die Waffen einzusammeln. Die übrigen hievten Stoffballen aus den Wagen und luden sie auf Packpferde und auf die erbeuteten Pferde der Kaufleute. Als sie die Zugpferde ausspannten, geriet einer der Wagen ins Rollen, rammte eines der herrenlosen Reittiere und riss es mit in die Tiefe.
Einer der Raubritter bellte wütende Befehle, die anderen beeilten sich, ihnen Folge zu leisten. Schließlich kümmerten die Männer sich um ihre Verletzten und Toten, banden sie auf den Pferderücken fest. Sie setzten die Wagen in Brand, die trotz der nebelfeuchten Luft rasch Feuer fingen, und als alles lichterloh in Flammen stand, trabten sie mit ihrer Beute die Steige hinauf, wo sie nach wenigen Augenblicken im dichten Laub verschwanden.
Melisandes Herz hämmerte wild. Immer wieder hatte sie sich gesagt, dass sie fliehen müsse, weglaufen, so weit und so schnell sie konnte, um nicht von den Raubrittern entdeckt zu werden. Doch ihre Beine hatten ihr nicht gehorcht. Die Todesschreie, das Blut, das Klirren der Schwerter – sie hatte nicht die fremden Wagen vor sich gesehen, sondern den Karren, auf dem sie mit ihrer Mutter und Gertrud gesessen hatte. Die tapferen Kaufleute, die sich so erbittert zur Wehr setzten, das waren ihr Vater, Rutger und Siegfried von Rabenstein gewesen, der Ritter, der sie an Gawan erinnert und der gleich zu Anfang den Tod gefunden hatte. Und der Anführer der Raubritter ...
Auch als die Mörder längst fort waren, stand Melisande noch da, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren.
Einige der Angreifer waren unmittelbar unter dem Felsen, auf dem sie stand, aus dem Gebüsch hervorgestürmt. Wie leicht hätten die Männer sie bemerken können.
Ein seltsames Geräusch riss Melisande aus ihrer Erstarrung. Da! Noch einmal. Jemand stöhnte kaum hörbar. Einer der Männer rührte sich. Er lebte!
Die Starre brach. Ohne nachzudenken, rannte Melisande den steilen Abhang hinab.
Es war einer der Kaufleute, ein junger Mann mit breiten Schultern und ebenmäßigem Gesicht. Blut sickerte aus einer Wunde an seiner Seite, und auch sein Kopf war verletzt.
Melisande blickte sich suchend um. Die brennenden Wagen strahlten eine unerträgliche Hitze aus. Zum Glück stand kein Baum so dicht am Weg, dass das Feuer drohte, auf den Wald überzugreifen. Dann sah Melisande, dass aus einem der Wagen ein großer Ballen weißes Leinen gerollt war, an dem die Ritter offenbar nicht interessiert gewesen waren. Leinen war genau das, was sie jetzt brauchte.
Sie rannte zu dem Ballen und riss ein paar Streifen ab. Bei einem der Toten fand sie einen Weinschlauch. Mit dem Wein tränkte sie das Leinen und reinigte damit die Wunden. Dann legte sie dem Kaufmann, der nur halb bei Bewusstsein war und alles wehrlos über sich ergehen ließ, Verbände an, einen um den Leib, einen zweiten um den Kopf. Inzwischen hatte ein zweiter Mann angefangen, sich zu regen.
Melisande holte mehr Leinen.
Vier Männer hatten den Überfall überlebt. Sie versorgte sie, so gut es ging, verband Wunden, stillte Blutungen und schiente gebrochene Glieder. Wie aber sollte sie die Männer nach Urach bringen? Die Wagen waren völlig ausgebrannt, noch immer schwelte die Glut an den schwarzen Gerippen, außerdem hatten die Raubritter alle Pferde mitgenommen.
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