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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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nicht strafte, die sein Wort verfälschten.
    Das Rattern von Rädern und das Schnauben eines Pferdes brachten Raimund zurück in die Gegenwart. Die aufgehende Sonne malte goldenes Licht auf die Giebel der Dächer. Wie schnell der Tag gekommen war! Jetzt standen die Tore offen, und er konnte hinausschlüpfen, um nach Melisande zu sehen. Vorher aber musste er sich um seine Pflichten kümmern. Seine Knechte warteten auf Anweisungen. Sie mussten in der unteren Beutau ein totes Pferd und zwei tote Hunde von der Straße holen. Dazu brauchten sie den Karren, Seile und Werkzeug. Vielleicht war die Haut des toten Pferdes noch zu gebrauchen. Das gäbe ein paar Pfennige extra.
    Rasch lief er auf die Innere Brücke zu. Die Stadt erwachte langsam. Aus manchen Kaminen stieg bereits der Rauch des Herdfeuers auf. Menschen schlurften an ihm vorbei, viele noch schläfrig und mit mürrischem Gesichtsausdruck. So mancher roch nicht besser als die Kadaver, die Raimunds Knechte einsammeln mussten. Bauersfrauen mit Körben voller Eier, Gemüse und Obst eilten zum Markt. Viele waren so in Gedanken versunken, dass sie Raimund gar nicht wahrnahmen, doch wer ihn erkannte, wich ihm mit gesenktem Blick aus.
    Am Brückentor stauten sich Karren, Wagen, Menschen und Tiere. Der Andrang war so groß, dass ein Büttel immer nur eine bestimmte Anzahl hindurchließ, damit die Menschenmasse auf der schmalen Brücke nicht zum Stillstand kam und keine Panik ausbrach. Als Raimund eintraf, teilte sich die Menge jedoch auf wundersame Weise und öffnete ihm eine Gasse, durch die er Brücke und Tor ohne Verzögerung hinter sich lassen konnte.
    Die Knechte saßen vor ihrer Hütte und sprangen auf, als sie Raimund sahen.
    »In der Beutau wartet Arbeit auf euch«, rief er ihnen zu. »Ein Gaul und zwei Köter. Und danach macht ihr euch daran, die Latrinen zu leeren. Los, sputet euch!«
    Als sie verschwunden waren, schlüpfte er in sein Haus. Aus einer Truhe fischte er eine schmutzige weiße Cotte und einen dunklen Umhang mit Kapuze, die Tracht eines einfachen Bauern, und schnürte sie mit einem Gürtel zu einem Bündel zusammen.
    Bevor er das Haus verließ, vergewisserte er sich, dass niemand in Sichtweite war. Dann machte er sich auf den Weg. Unbehelligt verließ Raimund die Stadt. Nachdem er der Landstraße nach Stuttgart ein Stück weit gefolgt war, schlug er sich ins Unterholz, wo er das Bündel aufschnürte und sich die Bauernkleider überstreifte. Jetzt würde er zwischen all den Menschen, die auf den Fildern ihrem Tagewerk nachgingen, nicht mehr auffallen.
    Im Wald war es noch angenehm kühl. Niemand begegnete ihm. Als Raimund bei der verkrüppelten Eiche ankam, die ihm als Wegweiser diente, bog er von der Steige ab. Obwohl er weit von dem Talschluss entfernt war, wo de Bruce’ Männer die Fährte verloren hatten und nun sicherlich auf der Lauer lagen, bewältigte er das letzte Stück bis zum Hintereingang der Höhle in der Hocke. Ein alter Trick. Damit konnte er jederzeit kampfbereit aufspringen, war kaum zu sehen, hatte aber eine weit bessere Sicht, als wenn er auf allen vieren liefe oder sich wie eine Schlange durch den Staub wände. Ungestört erreichte er das Gebüsch, das den Eingang verbarg.
    Gerade wollte er sich hineinzwängen, als er stockte. Abgebrochene Zweige. Die Bruchstellen waren frisch. Natürlich könnte es ein Tier gewesen sein, das sich in der Nacht durch das Gestrüpp gezwängt hatte. Oder er selbst hatte sich beim Verlassen der Höhle ungeschickt angestellt. Gewöhnlich achtete er zwar darauf, keine Spuren zu hinterlassen, aber gestern war er mit seinen Gedanken bei den Ereignissen des Nachmittags gewesen, bei der Schlacht, bei Melisande und dem Problem, das er sich mit ihr aufgehalst hatte.
    Seufzend schob er die Zweige zur Seite. Er fand den Eisenstab, stieß damit in die verborgene Ritze zwischen Stein und Fels. Er spürte den Widerstand, drückte den Sperrhebel nach oben, legte den Stab zurück, schob den Stein beiseite, schlüpfte in den Gang und ließ die steinerne Tür einrasten. Niemand konnte sie jetzt von außen öffnen, es sei denn, er kannte den Mechanismus.
    Raimund wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann ging er los, wobei er sorgsam seine Schritte zählte. Nach einer Weile hielt er inne. Jetzt müsste schon das Licht des Feuers zu sehen sein.
    Nichts.
    Er lauschte.
    Nichts.
    Er zwang sich zur Ruhe. Wahrscheinlich hatte die Erschöpfung Melisande in einen tiefen Schlaf gestoßen, und deshalb

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