Henkerin
nichts mehr riechen zu müssen. Noch nie in ihrem Leben war sie so müde gewesen, so unendlich müde. Und doch wollte sie schreien, schreien und noch mal schreien. Schlafen und schreien, beides gleichzeitig, und beides durfte sie nicht. Noch nicht. Der Hase und der Uhu. Beide waren in dieser Nacht ein Teil von ihr geworden.
Auf allen vieren kroch sie aus dem Gebüsch hervor, wartete einen Moment, spürte nach, ob Gefahr drohte, aber da war nichts. Kein Ast knackte, kein Gestank nach schmutzigen Söldnern verpestete die Luft. Eine warme Brise setzte ein, der Wald atmete sanft, und die Tiere der Nacht schwiegen. Melisande erhob sich, streckte die Hände nach oben und bekräftigte ihren Schwur. Dann lief sie los.
***
Raimund blieb auf dem Kosbühel stehen. Von den Klöstern her, die über das gesamte Stadtgebiet verstreut lagen, riefen die Glocken zur Laudes. Jetzt standen die Mönche von ihren Strohlagern auf und ehrten Gott mit den Worten: »Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund Dein Lob verkünde.«
An manchen Tagen stand Raimund im Schatten eines Mauervorsprungs in der Nähe einer Kirche und lauschte heimlich dem Gebet der Mönche, denn auch der Einlass in die Gotteshäuser wurde ihm verwehrt. Nur in der Stadtkirche St. Dionys durfte er am Sonntag der Frühmesse beiwohnen. Sein Platz war in einer Nische nahe dem Eingang, wo niemand ihn versehentlich berühren konnte.
Raimund musste an Melisande denken. Was sollte aus ihr werden? Sie war ein aufgewecktes Mädchen, stark, schlau und hübsch. Wie Eslin, seine geliebte Ehefrau, es gewesen war. In einer Sommernacht wie dieser vor sieben Jahren hatte sie ihn verlassen; den neugeborenen Sohn hatte sie mitgenommen. Nichts hatte er tun können. Eslins Schreie hatten an jenem Tag den Sonnenaufgang verzögert. Die Vögel hatten ihren Gesang eingestellt, und die Glocken zur Laudes hatten dumpf geklungen, als wären sie in Stroh eingeschlagen. Unter der Hand war sie ihm verblutet. Und nur ein Mensch hatte ihm zur Seite gestanden: Meister Henrich. Niemand hatte etwas davon erfahren, sonst wäre der Bierbrauer wohl aus der Zunft verstoßen worden. Meister Henrich war auf die Fildern geritten, ganz allein, mitten in der Nacht, um die Berkheimer Hebamme zu holen, denn die Esslinger Hebamme hatte sich geweigert zu helfen. Aber als der Freund mit der alten Frau zurückkehrte, war es bereits zu spät gewesen. Eslins Schreie waren längst verstummt, sie und der Sohn, den sie unter solchen Qualen zur Welt gebracht hatte, beide tot.
Am nächsten Morgen hatte Raimund Meister Henrich gefragt, warum er ihm geholfen habe. Warum er sich mit einem wie ihm abgebe. Und Henrich hatte geantwortet: »Raimund! So steht es geschrieben. Christus hat gesagt: ›Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.‹ Lest die Bibel.«
Raimund hatte nur den Kopf geschüttelt. »Ich kann kaum lesen und schreiben. Und die lateinische Sprache verstehe ich schon gar nicht.«
Da hatte Meister Henrich geheimnisvoll gelächelt. Und wenige Tage später hatte er Raimund in seinem Haus empfangen, ihn in eine geheime Kammer geführt und ihm seine Bibel gezeigt: eine Sammlung von Büchern, Schriftrollen und Dokumenten. Die Worte waren nicht auf Latein geschrieben, sondern auf Deutsch.
»Ein Franziskaner aus dem Herzogtum Österreich hat die Heilige Schrift in unsere Sprache übersetzt«, hatte Meister Henrich ihm erklärt. »Niemand kennt seinen Namen, und nur Eingeweihte wissen um sein Werk. Diese Schriften sind das Kostbarste, was ich besitze. Das wahre Wort Gottes. Auf der ganzen Welt gibt es nichts, das von so ungeheurer Weisheit ist. Und die Priester lügen uns an, wisst Ihr?«
Raimund hatte sich bekreuzigt und Henrich mit großen Augen angesehen. Der hatte nur gelacht und auf das Buch gezeigt. »Ich werde es Euch vorlesen. Jede Woche ein paar Verse, wann immer wir dafür Zeit finden. Wenn Ihr mir am Ende nicht zustimmt, will ich mich besinnen.«
Meister Henrich behielt recht. Die Worte der Bibel waren das Schönste, was Raimund jemals gehört hatte. Voller Trost und Sicherheit. Voller Liebe und Wahrheit. Als Henrich ihm einige Wochen später die letzte Seite vorgelesen hatte, hatte er dagesessen, die Wand angestarrt und nicht begreifen können, dass es Menschen gab, die nicht an Gott glaubten. Und dass Gott diejenigen
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