Henkerin
hatte sie das Feuer verlöschen lassen.
Behutsam schlich er weiter, zählte noch einmal. Jetzt musste er in der Höhle stehen, etwa in der Mitte. Langsam tastete er sich zum Strohlager vor, aber er brauchte gar nicht zu fühlen, er wusste bereits, dass Melisande nicht mehr hier war. In der vollkommenen Stille der Höhle hätte er ihren Atem laut und deutlich hören müssen.
Wo war das Mädchen nur? Hatte sie jemand ... Raimund zwang sich zur Ruhe. Mit seinem Feuerstein schlug er Funken, bald brannte eine Fackel. Aufmerksam blickte er sich um.
Melisande konnte noch nicht lange weg sein. Das Feuer war zwar heruntergebrannt, aber die Asche war noch nicht ganz ausgekühlt. Konnte es sein, dass de Bruce’ Männer sein Versteck ausfindig gemacht hatten? Hatten sie gesehen, wie er mit dem Mädchen hinter den Felsen verschwunden war? Hatten sie den Mechanismus entdeckt? War Melisande bereits tot?
Nein. Raimund rief sich zur Ordnung. So durfte er nicht denken. Sicherlich hatte sie es in der Höhle nicht mehr ausgehalten und war hinaus in den Wald geflüchtet. Wie unüberlegt und töricht von ihr! Wenn de Bruce sie da draußen erwischte, war sie des Todes. Und auch sein Versteck war nichts mehr wert.
Noch einmal suchte er die Höhle ab. Es galt, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er musste das Mädchen finden, aber er musste auch an sich denken. Gab es irgendetwas, das auf ihn hinwies? Nein.
Raimund überlegte. So unbedacht, dort hinauszuwollen, wo sie hereingekommen waren, war Melisande bestimmt nicht gewesen. Dennoch lief er durch den Gang und untersuchte den Eingang. Unversehrt. Niemand hatte ihn benutzt. Das kleine Ästchen, das er auf den Stein legte, wann immer er die Höhle betrat, befand sich dort, wo es hingehörte. Also hatte sie das Versteck durch den hinteren Ausgang verlassen.
Raimund unterdrückte einen Fluch. Das dumme Ding war weggelaufen und hatte sie beide in Lebensgefahr gebracht!
***
Von Säckingen hatte seine leichte Rüstung abgelegt und unter Zweigen und altem Laub verborgen. Jetzt trug er die Kleider eines Handelsmannes, die immer in einem Versteck in der Nähe der Stadt für ihn bereitlagen. In Esslingen wusste außer seinem Späher niemand, wer er war; von Säckingen aber kannte die Stadt in- und auswendig. Mehr als einmal hatte er sie ausgekundschaftet, und seine Mittelsmänner trugen ihm alle interessanten Neuigkeiten zu.
Trotz des hellen Mondscheins hatte er die ganze Nacht gebraucht, um von der Adlerburg hierher zu gelangen, denn er hatte den Hohlweg gemieden und war im Bogen erst an der Aich entlang- und dann auf der Landstraße den Neckar hinabgeritten. Die Stadttore waren längst geöffnet, und auf den Straßen herrschte reges Treiben. Sein Ziel war das Gasthaus »Zum schwarzen Bären«, wo sein Informant gewöhnlich anzutreffen war. Dem Besitzer gehörte auch das Gasthaus »Zum Eichbrunnen«, in dem die höhergestellten Herren verkehrten, die Teller und Schalen sauber waren und der Wein sogar in Bechern aus Steingut ausgeschenkt wurde.
Unbehelligt passierte von Säckingen das Obere Tor. Wer mit einem Karren in die Stadt wollte, musste zeigen, was er mit sich führte. Manch einer wurde wieder weggeschickt, weil die Ware nicht gut genug war, nicht mehr frisch, oder weil schon zu viele andere Händler in der Stadt waren, die dasselbe anboten. Für einen einsamen Reiter ohne Waren interessierten sich die Wächter nicht.
Von Säckingen stieg vor dem »Schwarzen Bären« ab und übergab sein Pferd einem herbeieilenden Knecht. Eine Magd hielt ihm die Tür auf, knickste und grinste ihn schräg von unten an, doch von Säckingen war nicht nach Vergnügen zumute.
Die Magd führte ihn an einen Tisch am Fenster und stellte einen Krug Wein und einen hölzernen Becher hin. Von Säckingen kostete. Der Wirt machte seine Sache gut, der Wein schmeckte ausgezeichnet, war mit Nelken und Zimt verfeinert. Von Säckingen schaute sich um. Außer ihm waren noch vier weitere Gäste im »Schwarzen Bären«. Ein alter weißhaariger Mann hatte den Kopf auf die Tischplatte gebettet und schlief, ohne ein Geräusch von sich zu geben. An einem anderen Tisch saßen zwei derbe Burschen, wahrscheinlich Tagelöhner, die sich bei den Steinmetzen verdingt hatten. Der vierte Gast lehnte an einem Balken. Dietrich, genannt Vulpes, der Fuchs, sein Spion und Späher.
Säckingen blickte ihm kurz in die Augen, und sogleich setzte Dietrich sich zu ihm.
Augenblicklich stellte die Magd einen zweiten Becher auf den Tisch. »Sind
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