Henkerin
Melisande Wilhelmis war, dann hatte er Ruhe, dann war es tatsächlich vollbracht. Warum also sollte er zweifeln? Zumal dieses Mädchen der kleinen Wilhelmis tatsächlich ungeheuer ähnlich sah. Wie wahrscheinlich war es wohl, dass sich zwei solche Rotschöpfe am selben Tag im selben Waldstück herumtrieben? Er wiegte den Kopf. »Gut, gut. Ihr habt hervorragende Arbeit geleistet, von Säckingen. Wie immer.« Er zeigte auf das tote Mädchen. »Verbrennt sie, und zermahlt ihre Knochen. Nichts darf von ihr übrig bleiben.«
Zwei Männer eilten herbei, um den Befehl auszuführen. De Bruce sah zu, wie sie das Mädchen wegschleppten. Das rote Haar schleifte über den Boden und wirbelte den trockenen Staub auf.
De Bruce biss sich auf die Unterlippe. Etwas drückte in seinem Bauch, als hätte er einen Stein verschluckt. Verärgert winkte er von Säckingen zu sich. »Ihr glaubt wirklich, dass sie es ist? Dann verratet mir, warum ich so ein merkwürdiges Ziehen im Magen habe.«
Der Hauptmann räusperte sich. »Das Ziehen im Magen, könnte das nicht Hunger sein?«
De Bruce drehte sich abrupt zu ihm um und brüllte los vor Lachen. »Mein Guter!« Er schlug seinem Hauptmann auf die Schulter. »Manchmal ist die Lösung wirklich einfacher, als man ahnt. Lasst uns zur Feier des Tages den Weinkeller aufsuchen. Es ist wohl weniger der Hunger als der Durst, der mich peinigt.«
***
Raimund legte Melisande eine Hand auf die Schulter. »Du kannst nicht hierbleiben. Du müsstest dich den ganzen Tag im Haus versteckt halten und nachts auch. Niemand dürfte dich sehen, sonst wüsste de Bruce zwei Tage später, wo du steckst, und ich könnte dich nicht vor ihm beschützen. Das wäre kein Leben. Weder für dich noch für mich. Ich werde jemanden finden, der sich um dich kümmert, weit weg von hier, wo dich niemand kennt. Geld genug hast du ja, und ich werde dir noch etwas dazugeben. In zwei oder drei Jahren bist du im heiratsfähigen Alter, dann findet sich ein guter Ehemann für dich, und du brauchst de Bruce nicht mehr zu fürchten. Melisande?«
Mit starrem Blick saß Melisande auf einem Schemel am Kamin und stocherte in der Asche herum.
Raimund hätte genauso gut mit der Wand sprechen können, und doch war er sicher, dass sie jedes Wort genau gehört hatte. »Und jetzt koche ich uns etwas zu essen«, fuhr er fort. Vielleicht war es besser, sich zunächst mit alltäglichen Belangen zu beschäftigen. »Sei so gut und hilf mir.«
Melisande regte sich nicht.
»Melisande!«
Noch immer reagierte das Mädchen nicht. Raimund unterdrückte ein Seufzen. Wahrscheinlich ließ er Melisande besser in Ruhe. Vorläufig zumindest. Ein gutes Essen würde ihre Lebensgeister sicher wieder wecken. Und sie einsichtig machen.
Er warf etwas Reisig in den Kamin und legte Scheite nach, die schnell brannten. Danach schälte er Zwiebeln, schnitt Lauch und Fenchel, holte in der Räucherkammer ein Stück Fleisch. Schon zog der Duft des Gemüses und des Gerauchten durch das Haus. Schweiß stand Raimund auf der Stirn. Er ließ den Eintopf köcheln und wandte sich um. Melisande saß immer noch regungslos da. Er tat so, als interessiere er sich nicht für sie, legte die Bauernkleider ab und verstaute sie in der Truhe. Danach nahm er den zweiten Löffel von der Wand, den, mit dem Eslin immer gegessen hatte, und legte ihn auf den Tisch. Schließlich wandte er sich wieder dem Eintopf zu.
Die ganze Zeit über hatte er Melisande nicht aus den Augen gelassen, die, ohne ein einziges Mal den Kopf zu heben, in das Feuer gestarrt hatte. Jetzt ging er zu ihr und stieß sie sanft an. »Das Essen ist fertig, Melisande. Du musst etwas zu dir nehmen, ja? Du brauchst deine Kräfte.«
Sie reagierte nicht. Raimund überlegte. Er beugte sich zu ihr hinunter und brachte seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr. »Du musst stark werden, damit du de Bruce besiegen kannst. Deswegen musst du essen. Nur deswegen.«
Er gab etwas von dem Eintopf in eine Schale, füllte eine zweite für sich, setzte sich an den Tisch, brach Brot ab, füllte zwei Becher mit Wasser und Wein. Erst als er seine zweite Portion nahm, kam sie an den Tisch, setzte sich und begann langsam zu essen. Ihr Gesicht verriet nicht, ob ihr der Eintopf mundete, ob sie überhaupt merkte, was sie aß.
Raimund seufzte. Wenigstens hatte sie das Essen nicht wieder ausgespuckt.
Er räumte ab, Melisande schien sich für nichts zu interessieren. Hatte er sie zu hart angepackt? Immerhin hatte sie ihre ganze Familie verloren, war selbst
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