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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Bürger Esslingens war. Das würde er auch nie werden, denn ihm fehlten Besitz und Stand, und ihm würde nicht nur die Hand abgehackt, er würde auch für immer und ewig aus der Stadt verbannt werden. Starb er nicht sofort an Hunger, entzündete sich höchstwahrscheinlich sein Armstumpf und brachte ihm so den Tod, denn Raimund versorgte die Wunde nur einmal, unmittelbar nach Vollstreckung des Urteils. Er erinnerte sich an die Geschichte des Mannes, die er irgendwo aufgeschnappt hatte: Bei einem Feuer war bis auf ihn die ganze Familie ums Leben gekommen, und allein hatte er nicht die Kraft gehabt, den Hof wieder aufzubauen. Sein Lehnsherr hatte ihm das Land abgenommen und es einem anderen gegeben.
    Er trat auf den Mann zu. »Wie heißt du?«
    Die Zähne des Gefangenen klapperten so sehr, dass er kein Wort herausbrachte.
    »Er ist bekannt unter dem Namen Julius, Sohn des Wolfgang, freier Bauer auf den Fildern«, tönte aus einer Ecke des Raumes die dunkle Stimme des Schreibers.
    Ratsherr Sempach begann. »Julius, Sohn des Wolfgang, ich frage dich: Hast du dem Jan Schepper einen Sack Mehl gestohlen, in der Absicht, das Mehl zu verkaufen und dich mit dem Gewinn zu bereichern?«
    Die Zähne des Angeklagten schlugen immer noch aufeinander, außer einem Wimmern kam nichts zwischen seinen Lippen hervor.
    Raimund wandte sich Langkoop zu. »Darf ich versuchen, Herr, ihm die Angst ein wenig zu vertreiben, sodass er zumindest sprechen kann?«
    »Ja, ja«, erwiderte der Richter. »Gebt ihm von Eurem Elixier, aber macht voran! Bald ist es Abend. Wir haben Wichtigeres zu tun, als einen verstockten Dieb zum Reden zu bringen.«
    »Habt Dank, Herr.« Raimund löste ein Tonfläschchen von seinem Gürtel, zog den Pfropf ab, machte einen Schritt zu Julius hin, griff mit eiserner Hand dessen Unterkiefer, bog ihn herunter und ließ ein paar Tropfen in dessen Kehle laufen.
    Julius musste schlucken, seinen Kopf konnte er nicht bewegen, denn er war mit einem Eisenband festgezurrt. Nach wenigen Augenblicken hörten die Zähne auf zu klappern.
    Sempach wiederholte seine Frage: »Julius, Sohn des Wolfgang, ich frage dich: Hast du dem Jan Schepper einen Sack Mehl gestohlen, in der Absicht, das Mehl zu verkaufen und dich mit dem Gewinn zu bereichern?«
    »Jan Schepper ... kenn’ ich nich’«, brachte der Angeklagte stockend hervor.
    Selbst in dem trüben Schein der Fackeln und Talglichter konnte Raimund sehen, dass der dicke Konrad Sempach rot anlief und zu einer Eisenstange griff.
    Langkoop ging dazwischen. »Es nützt gar nichts, wenn Ihr zuschlagt, Sempach. Das zieht nur eine unangenehme Untersuchung nach sich. Das wisst Ihr doch.«
    Der Ratsherr ließ die Stange sinken. Raimund kannte den Mann seit Jahren. Ein unbeherrschter Mensch, dem man nachsagte, dass er außer sich selbst niemanden mochte. Zumindest hatte er sich Raimund gegenüber bisher immer anständig, ja sogar großzügig verhalten. Erst kürzlich hatte Sempach im Rat die Erhöhung seiner Löhnung durchgesetzt.
    »Woher hast du das Mehl?«, schrie Sempach nun. »Rede endlich, oder Meister Hans wird dich das Grauen lehren.«
    »Aber der Sack, den hab’ ich vom Weg aufgelesen, und da war niemand.«
    »Du lügst! Man hat dich gesehen, wie du bei der Mühle mit dem Sack abgehauen bist. Gestehe endlich!« Sempach brüllte wie ein Ochse. Aber Julius ließ den Kopf hängen und fing an zu weinen.
    »Raimund, Nachrichter und Scharfrichter von Esslingen, walte deines Amtes.« Aus Sempachs Augen blitzte die Vorfreude.
    Raimund neigte das Haupt. Von der Wand nahm er eine grobe, armlange Zange. Er legte sie in ein Kohlebecken, fächelte Luft, sodass die Glut hell leuchtete. Im Nu glühten die Backen der Zange röter als Sempachs Wangen. Er nahm das Werkzeug heraus und hielt es vor Julius’ Gesicht, das sich vor Entsetzen verzerrte. »Wenn du die Wahrheit sagst, lege ich die Zange wieder zurück, und dir bleibt der Schmerz erspart.«
    Der Angeklagte schloss die Augen und schwieg. Raimund kannte Menschen wie ihn. Erst wenn der Schmerz über sie hereinbrach, glaubten sie, dass man es ernst meinte. Er gab einem Büttel mit dem Kopf ein Zeichen. Der knebelte Julius und zog sich wieder zurück. »Du hast es so gewollt. Möge Gott dir gnädig sein.« Blitzschnell quetschte Raimund mit der Zange den linken Oberarm des störrischen Mannes. Es zischte, die Backen gruben sich in die Haut und dann in die Muskeln, der Geruch von verbranntem Fleisch stieg auf, es dampfte und qualmte.
    Julius’ Augen

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