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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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verwinkelte Liegen hatte ihren Beinen die Kraft geraubt. Noch einmal versuchte sie es. Diesmal gelang es ihr, sich hochzuhieven und über den Kistenrand zu rutschen. Rasch rappelte sie sich auf, blickte sich nach allen Seiten um und sprang vom Wagen.
    In der Pliensauvorstadt gab es noch viele freie Felder, auf denen Emmer angebaut wurde, Einkorn und Dinkel. Wie ein Wiesel huschte sie durch das Hoftor nach draußen, rannte zwischen den Ähren hindurch, hielt sich gebückt und suchte Deckung zwischen Scheunen und Schobern. Wie gut, dass sie so oft von Zuhause ausgebüchst und durch die Stadt gestromert war! So kannte sie sich gut aus. Bis zum Schelztor, in dessen Nähe sich das Haus des Henkers an die Stadtmauer kauerte, waren es nur ein paar Hundert Fuß. Das Tor wurde immer dann geöffnet, wenn der monatliche Rossmarkt stattfand. Dann strömten aus der ganzen Gegend Händler und Käufer nach Esslingen, und bis auf die andere Seite des Neckars hörte man das Schnauben und Wiehern der Rösser. Doch heute war kein Rossmarkt, um das Schelztor herum war es einsam und still.
    Melisande sah das Haus des Henkers bereits von weitem. Es war keine abgerissene Holzhütte, wie sie es sich vorgestellt hatte, sondern ein massives Gebäude, wie es sich manch ehrlicher Bürger nicht leisten konnte. Auf den gemauerten Fundamenten erhob sich ein kunstvolles Fachwerk, das nirgends aufgebrochen oder baufällig war. Das Dach aus robusten Holzschindeln machte den Eindruck, selbst starken Regen abwehren und große Mengen Schnee tragen zu können.
    Als Melisande näher kam, bemerkte sie, dass es nicht nach verwesenden Leichen roch, wie sie insgeheim befürchtet hatte, sondern nach Kräutern. Rechts und links des Hauses erstreckte sich ein Garten, in dem allerlei Pflanzen wuchsen, Melisande erkannte Kerbel und Zwiebeln, Dill, Goldrute und Gundermann. Vorsichtig schlich sie näher. Fensterläden und Tür schienen fest verschlossen. Sie rüttelte am Knauf. Nichts geschah.
    Rasch huschte sie um das Haus, bis sie dicht bei der Stadtmauer stand. Da. Ein Nebeneingang. Sie drückte vorsichtig gegen das Holz, aber auch hier regte sich nichts. Verzweifelt blickte sie sich um. Jetzt hatte sie es so weit geschafft und scheiterte an der Tür! Es musste doch einen Durchschlupf geben, ein Fenster oder eine Luke.
    Plötzlich legte sich von hinten eine Hand um ihren Hals, eine andere auf ihren Mund. »Jetzt ist es endgültig vorbei mit Melisande Wilhelmis.«
***
    Von Säckingen betrachtete das zerstörte Gesicht des Mädchens. Er hatte Melisande Wilhelmis nie gesehen, doch selbst wenn er sie gekannt hätte, wäre es ihm unmöglich gewesen zu sagen, ob sie es war. Die Züge des Mädchens waren völlig entstellt, die Nase eingeschlagen, die Lippen blutig aufgequollen. Es war höchstens dreizehn gewesen und von sehr schmächtigem Körperbau. Trotz des Schmutzes war das Haar unzweifelhaft von leuchtendem Rot. Von Säckingen untersuchte die Hände, aber er konnte nicht mehr feststellen, ob sie schwielig waren wie bei einer Bauerntochter oder fein und zart, denn die Haut war erdverkrustet und aufgeschürft. Durch den Schmutz hindurch konnte von Säckingen die blauen Flecken an Armen und Beinen erkennen. Getrocknetes Blut klebte an ihren Schenkeln. Der fromme Bruder musste die Kleine wie ein Berserker verprügelt haben. Und nicht nur das.
    »Ich werde einen Scheiterhaufen errichten, sie verbrennen und ihre Asche in alle Winde verstreuen«, erklärte Eusebius mit feierlicher Stimme. »Sie muss vom Erdboden vertilgt werden, die böse Hexe, damit sie nie wieder Unheil anrichten kann.« Als von Säckingen ihm helfen wollte, Holz zu sammeln, winkte er ab. »Das ist meine Aufgabe, habt Dank, mein Freund. Ruht Euch aus. Ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen.«
    »Wie Ihr meint.« Von Säckingen legte sich in den Schatten einer Eiche und schaute zu, wie der Mann sich abrackerte. Der Mönch trug einen Berg Holz zusammen, schichtete es sorgsam auf. Als er fertig war, blieb er schnaufend stehen.
    Von Säckingen erhob sich und lächelte. »Gut gemacht«, sagte er, zog sein Schwert, schlug dem verblüfften Mönch den Kopf ab. Rasch griff er in dessen Beutel, nahm die Dokumente an sich, legte ihn auf den Scheiterhaufen und zündete ihn an. Sorgfältig achtete er darauf, dass das Feuer nicht auf den Wald übergriff. Die verkohlten Reste ließ er liegen. Ob ein gebratener Mönch den wilden Tieren wohl besser mundete als ein einfacher Bauer? Er schüttelte sich. Wohl kaum. Die

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