Henkerin
innere Verletzungen haben, die ihn töten könnten, sobald er bewegt wurde. Blieb er aber hier liegen, war er unweigerlich verloren.
Und Hilfe holen? Sollte sie zur Steige oder zurück in die Stadt laufen? Unwillkürlich schüttelte Melisande den Kopf. Nein, das war unmöglich. Sie konnte Adalbert nicht schutzlos hier liegen lassen. Was, wenn ein Landstreicher ihn fand, ausraubte und tötete? Oder ein anderer Reiter den schmalen Steig entlangpreschte? Es gab nur diese eine Möglichkeit. Sie musste Adalbert aufs Pferd setzen.
Behutsam strich sie ihm eine blonde Locke aus dem Gesicht. Wie friedlich er aussah. Zögernd beugte sie sich vor, schloss die Augen und berührte seine Lippen sanft mit den ihren. Sie waren weich, viel weicher, als sie erwartet hatte. Mit einem Mal schien ein süßes, alles verschlingendes Rauschen die Welt zu erfüllen. Nichts sonst war wichtig, nur Adalbert und sie und die köstliche Berührung ihrer Lippen, die sie beide vereinte.
Eine Brise kam auf, in den Wipfeln raschelte es, als würden Menschen miteinander tuscheln. Ein kleiner Ast brach, fiel Melisande auf die Schulter. Sie schreckte hoch und blickte sich um. Ihr Gesicht glühte vor Schreck und Scham. Hastig sprang sie auf und wich zurück. Was hatte sie getan? War sie denn von allen guten Geistern verlassen? Jemand hätte den Steig entlangkommen können. Oder Adalbert hätte erwachen können. Unvorstellbar, was sie ihm und sich selbst damit angetan hätte! Vom Henker geküsst, was für eine entsetzliche Vorstellung!
Melisande ermahnte sich zur Ruhe. Sie musste Adalbert hier wegschaffen, und zwar rasch. Sie fing das Pferd ein, das sich mühelos an einen Baum binden ließ, griff Adalbert und hievte ihn sich auf den Rücken. Sie wankte, atmete stoßweise. Er war schwer wie zwei Sack Mehl, obwohl er gertenschlank war und nur wenig größer als sie selbst. Aber bewusstlose Körper schienen ihr Gewicht zu verdoppeln, das hatte sie schon oft erlebt, wenn sie mit ihren Gehilfen einen Toten oder Ohnmächtigen wegtragen musste.
Ein Ast knackte. Melisande ließ Adalbert fast fallen, aber als sie lauschte, hörte sie nichts als den Wind in den Bäumen. Sie musste sich beeilen. Jeden Augenblick konnte jemand auftauchen. Sie stolperte in gebeugter Haltung auf den Rappen zu und schob Adalbert bäuchlings auf den Rücken des Tieres. Einen Augenblick verschnaufte sie, Schweiß rann ihr in Strömen über das Gesicht. Danach zog sie Adalberts linkes Bein auf die andere Seite, sodass er im Sattel saß und sein Oberkörper schlaff über den Hals des Pferdes hing. Sie überlegte kurz, dann löste sie seinen Gürtel und band damit seine Beine am Bauch des Pferdes fest. Die Leute würden sich wundern, wer das getan haben mochte. Hoffentlich stellten sie nicht allzu gründliche Nachforschungen an!
Plötzlich kam Melisande eine Idee. Seine Geldkatze. Die würde sie irgendwo im Wald vergraben. So würde jeder denken, Adalbert sei Opfer eines Räubers geworden, der sein Leben aus unerfindlichen Gründen verschont hatte.
Jederzeit bereit, sich ins Gebüsch zu schlagen, führte Melisande Adalbert und sein Pferd zurück zur Steige. Kurz bevor die Straße in Sicht kam, gab sie dem Pferd einen Klaps auf die Kruppe. »Los!«
Der bewusstlose Adalbert schwankte auf dem Rücken des Tieres hin und her, aber er fiel nicht hinunter. Melisande beobachtete Pferd und Reiter noch einen Augenblick, dann versteckte sie sich im Gebüsch. Nur wenig später hörte sie die Rufe der Fuhrleute. Offensichtlich hatten sie Adalbert gefunden.
Melisandes Herz machte vor Erleichterung einen Sprung, nur um im nächsten Moment fast stehen zu bleiben. Nie wieder würde sie Adalbert berühren, geschweige denn küssen. Nie wieder würde sie seine Wärme spüren. Sie versteifte sich. An allem war Ottmar de Bruce schuld. Als Melisande Wilhelmis hätte sie Adalbert heiraten, ihm Kinder gebären und mit ihm als angesehene Esslinger Bürgersfrau glücklich werden können.
Sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Die Stunde der Vergeltung war nah.
***
Auf der Bergkuppe vor ihnen kam das Plateau der Adlerburg in Sicht, und Wendel bemerkte sofort, dass die Bauarbeiten, die de Bruce vor über fünf Jahren begonnen hatte, endlich abgeschlossen waren. Die frischen dicken Mauern leuchteten weithin sichtbar im Licht des Nachmittags, eine Fahne mit dem Wappen der de Bruce flatterte im Wind. Die Adlerburg war jetzt eine starke Bastion, die uneinnehmbar auf dem hohen, steilen Felsen
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