Henkerin
wirklich klug. Er wird dich zeit seines Lebens hassen, und wenn er die Möglichkeit dazu bekommt, wird er versuchen, dich zu vernichten. Uns zu vernichten.« Jegliche Freude war mit einem Mal aus seinem Gesicht gewichen. »Sei vorsichtig. Bleib in Urach niemals allein. Ich werde dir Antonius mitgeben. Er wird dir nicht von der Seite weichen.«
»Aber er ist dein Leibwächter, Vater.« Wendel blickte zu dem Mann in der Rüstung, der zwei Schritte hinter Erhard Füger stehen geblieben war. Antonius war nur wenige Jahre älter als er selbst, doch sein muskulöser Körper, die wachsamen grünen Augen und die kleine Narbe an seinem Kinn verrieten, dass er ein erfahrener Kämpfer war.
»Ich bin hier in Reutlingen sicher und kann mir nicht leisten, dich zu verlieren«, erwiderte sein Vater. »Das wäre schlecht fürs Geschäft, und um nichts anderes geht es.«
Wendel musste gegen seinen Willen grinsen. »Gut. Ich werde nur trinken und essen, was vorher jemand gekostet hat. Und jetzt brechen wir auf, oder wir kommen nicht vor Einbruch der Nacht ans Ziel, und das wäre wirklich gefährlich.«
***
Melisande verbrachte den Rest des Tages wie in einem dunklen Traum. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte sie vier Humpen Bier auf einmal getrunken. Dabei hatte sie es bei dem einen Becher Wein belassen. Raimund regte sich nicht mehr, was ihr ganz recht war. Zügig wusch sie, räumte auf, legte ihn weitere zwei Mal trocken, was er mit starrem Blick über sich ergehen ließ.
Dieser Sturkopf. Was glaubte er denn? Dass mit der Zeit alles gut werden würde? Dass alle Wunden irgendwann heilten? Das Treffen mit de Bruce hatte ihr gezeigt, dass das ein Irrglaube war. Ein einziger Blick in seine kalten Augen hatte die Erinnerung wieder aufleben lassen, als wären all die furchtbaren Dinge erst gestern geschehen, als wäre seither kein einziger Tag vergangen. Plötzlich waren die Bilder wieder da: Rudgers ernste Miene, als er sie fortschickte, Mutters letzte Worte, Gertruds schmächtiger Körper, das kleine Herz von einem Pfeil durchbohrt.
Melisandes Magen wollte keine Nahrung aufnehmen, also steckte sie den Finger ein paarmal in den Honigtopf, eine spärliche, aber gute Mahlzeit, die ihr Magen willig annahm. Ihre größte Angst, nicht schlafen zu können, erwies sich hingegen als unbegründet. Sie hatte sich kaum niedergelegt, als sie auch schon in einen tiefen, traumlosen Schlaf hinüberglitt.
Gestärkt erwachte sie am nächsten Morgen. Sie sprach ihr Morgengebet wie immer. »Noch drei Tage«, fügte sie flüsternd hinzu. »Noch drei Tage, dann kann ich endlich mein Versprechen einlösen, dann ist der Tod meiner Familie gerächt.«
Nachdem sie Raimund versorgt hatte, entschloss sie sich, in den Wald zu gehen und nach Kräutern und Heilpflanzen zu suchen. Die letzten Wochen waren heiß und trocken gewesen, das ließ sie hoffen, einige gute Wurzeln zu finden, die, bei diesem Wetter gesammelt, besonders wirksam waren. Für de Bruce hatte sie etwas ganz Besonderes im Sinn: die Hundspetersilie, die unter Heilern »Leichenblume« hieß. Ein unscheinbares Pflänzchen mit lanzenförmigen Blüten, in denen der Tod steckte.
Melisande hatte schon vor langer Zeit begonnen, einen Vorrat davon anzulegen, von dem noch nicht einmal Raimund etwas ahnte. Inzwischen besaß sie genug Blütenextrakt, um zwei Ochsen zu töten. Und das Beste daran: Die Wirkung setzte erst nach Stunden ein, und dann war es zu spät, noch etwas für den Todgeweihten zu tun. Dann half nur noch der Beistand eines Geistlichen.
Der Sud, den Melisande aus den Blüten gekocht hatte, war farblos wie Wasser, zäh wie Honig und bei der Berührung mit Haut vollkommen harmlos. Aber wehe, das Gift gelangte in den Magen oder drang durch eine Verletzung in die Blutbahn. Ein kleiner Kratzer, den ein Mann wie de Bruce wahrscheinlich nicht einmal spüren würde, reichte aus. Wenn de Bruce starb, würde sie zwar nicht dabei zusehen können, aber dafür war sie in Sicherheit, denn es würde aussehen, als hätte er sich an einem schlechten Stück Fisch oder Fleisch vergiftet.
Melisande folgte der Berkheimer Steige, die erst ein Stück am Neckar entlang- und dann hinauf auf die Fildern führte. Treidelschiffe fuhren den Fluss hinab, Ochsen schnauften und schwenkten ihre massigen Köpfe vor Anstrengung. Pferdefuhrwerke transportierten Bauholz in die Stadt, Bauersfrauen mit Bastkörben auf dem Rücken brachten Geflügel, Gemüse und Flechtwerk zum Markt. Sie schnatterten wie die Elstern,
Weitere Kostenlose Bücher