Henkerin
ihm nahegelegt, nicht ihrer beider Zeit zu verschwenden. Wendels Stimme sei nicht dafür geschaffen, das Ohr seiner Mitmenschen zu erfreuen.
Nun, ein Lächeln stahl sich auf Wendels Gesicht. Immerhin hatte er einige ganz passable Zeilen zu Papier gebracht, auf die er sehr stolz war. Er legte eine Hand auf das raue Holz der Bühne. Gott allein wusste, warum er ihn nicht mit der Gabe des Sanges bedacht hatte, und deshalb mochte es so gut sein. Immerhin durfte er morgen Abend dem großen Richard von Alsenbrunn lauschen, und vielleicht würden sie sogar an derselben Tafel sitzen.
***
Melisande erwachte, als der Himmel noch nachtgrau war. Wie so oft hatte ein Albtraum sie aus dem Schlaf gerissen. Dabei hatte der Traum so süß und verheißungsvoll begonnen. Sie hatte von dem Unglück im Wald geträumt, von Adalberts Sturz und davon, wie sie ihn gerettet hatte. Noch einmal hatte sie im Traum ihre Lippen auf die seinen gepresst, ihre süße Wärme gespürt. Doch diesmal war er aufgewacht. Und plötzlich hatte nicht Adalbert Breithaupt vor ihr auf dem Waldboden gelegen, sondern Ottmar de Bruce. Blitzschnell hatte er sie gepackt, zu sich heruntergezogen und gezwungen, ihn nochmals zu küssen. Wieder und wieder, bis sie keine Luft mehr bekam. Als sie schon ganz benommen war vor Angst und Ekel, hatte er gierig den Mund aufgerissen und sie bei lebendigem Leib verschlungen.
Zitternd versuchte sie, die grauenvollen Traumbilder aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Immerhin hatte sie in Erfahrung gebracht, dass es Adalbert gut ging, dass er schon wieder wohlauf war. Im »Eber« war der rätselhafte Überfall auf den Sohn des Zunftmeisters das Gespräch des Abends gewesen. Die wildesten Mutmaßungen, wer Adalbert zuerst beraubt und danach auf seinem Gaul festgebunden hatte, hatten die Runde gemacht und Anlass zu so manchem gut gemeinten Spott geboten. Der Held des Tages war sogar leibhaftig aufgetaucht, und Melisande hatte mit wild klopfendem Herzen gelauscht, wie er immer wieder von seinem Abenteuer berichten musste. Vielleicht, hatte sie gedacht, vielleicht durfte sie sich ihm ja doch eines Tages als Frau zu erkennen geben. Vielleicht würde er sich dann in sie verlieben, trotz all der schrecklichen Dinge, die sie als Henker getan hatte.
Da Raimund noch immer schmollte, verrichtete Melisande schweigend ihre Dienste, wusch ihn, fütterte ihn, las ihm vor. Mit starrem Blick ließ er alles mit sich geschehen. Morgen würde er anders denken. Dessen war sich Melisande gewiss. Morgen würde er stolz sein auf seine Mel, die nicht nur alles von ihm gelernt, sondern seine Techniken, seine Tränke und seine ärztliche Kunst sogar noch verfeinert hatte.
»Heda, Melchior! Meister Hans!« Draußen erscholl die Stimme eines städtischen Büttels.
Melisande erschrak. Wie jedes Mal. Denn trotz der vielen Jahre, die inzwischen ins Land gegangen waren, verging kein Tag, an dem sie nicht fürchtete, jemand könne sie erkannt und beim Rat angezeigt haben. Jemand könnte vor ihrer Tür stehen und sagen: »Das ist Melisande Wilhelmis. Ich erkenne sie, auch wenn sie Männerkleider trägt und ihre Weiblichkeit fest verschnürt hat. Zieht sie aus, dann werdet Ihr sehen, dass sie kein Mann ist, dass sie alle betrogen hat. Liefert sie de Bruce aus!« Heute jedoch fürchtete sie etwas ganz anderes: Adalbert. Waren seine Verletzungen doch schlimmer gewesen, als sie angenommen hatte? War er tot? Hatte man sie mit ihm bei der Berkheimer Steige gesehen? Kam man, um sie zu holen und des Mordes anzuklagen?
»Heda, Meister Hans!« Die Stimme des Büttels wurde lauter.
Melisande trat vor die Tür und stemmte die Hände in die Hüfte, so wie Raimund es ihr beigebracht hatte.
»Melchior, du musst sofort kommen. Eine Magd muss befragt werden. Folge mir!«
Melisande nickte kurz. Dann schnappte sie sich ihren Beutel und trat auf die Straße. Die Erleichterung beflügelte ihre Schritte. Alles war wie immer. Sie sollte lediglich eine Magd vernehmen. Vermutlich hatte das dumme Ding ein paar Heller abgezweigt oder sich heimlich in der Speisekammer bedient. Diesmal wuselten keine Kinder um sie herum, dafür wehte der Wind den Gestank der Schlachtabfälle vom Metzgerbach her über den Rossmarkt. Raimund hatte ihr versprochen, sie würde sich mit der Zeit daran gewöhnen, aber er hatte sich geirrt.
In der Stadt herrschte rege Betriebsamkeit, die im Sommer nur für die wenigen Stunden der Nacht nachließ. Melisande begutachtete die Straßen, während sie zum Schelkopfstor
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