Henkerin
schwerlich zu verwechseln. Hoch aufgeschossen war er, maß an die sieben Fuß und war zugleich so dünn, dass es schien, als müsse er jeden Moment in der Mitte zerbrechen. Sein langes, fast weißes Haar hatte er zusammengebunden, in den schmalen Händen hielt er mit spinnenbeinigen Fingern seine berühmte Harfe, die er »Engelsholz« getauft hatte.
De Bruce blieb vor der Bühne stehen und wartete. Der Meistersänger zupfte hier und da an einer Saite, drehte an den Stimmwirbeln, summte einen Ton, drehte wieder, zupfte, bis er zufrieden brummte. Er legte sein Instrument vorsichtig in einen Kasten aus Kirschholz, der mit Schnitzereien verziert war, die berühmte Vorgänger des Sängers zeigten: Heinrich von Meißen, Rumelant von Sachsen, Walther von der Vogelweide, Meister Scholle, Wizlaw von Rügen und einige andere, die Wendel nicht kannte.
»Nun, Graf, was wünscht Ihr?« Alsenbrunn streckte sich, sodass seine langen Glieder knackten.
Wendel erschauerte. Schon die Stimme des Sängers hatte magische Kräfte.
»Darf ich Euch Wendel Füger vorstellen? Er sorgt mit seinem Traminer für die nötige geistige Unterstützung Eurer Kunst.«
Wendel schluckte. Was sollte er zu dem berühmten Mann sagen?
Alsenbrunn ließ sich von der Bühne gleiten und drückte ihm die Hand. »Was starrt Ihr mich so an? Habe ich schon wieder eine solche Ausgeburt der Hölle in meinem Gesicht, die rot glüht und über Nacht wächst – wie immer, wenn ich mich mit einem Weibe treffen will?«
Wendel hielt seinem Blick stand. »Ich hoffe, Ihr redet nicht von Eurer Nase, Meister, denn die ist zwar stattlich, aber sicherlich keine Ausgeburt der Hölle.«
Alsenbrunn stutzte, dann schlug er Wendel auf die Schulter. »So ist’s recht! Ihr keltert nicht nur guten Wein, sondern führt auch eine, ich möchte fast sagen, gut gelagerte Rede. Zumindest schmecken Eure Worte einem wie mir süß, manch anderem würden sie die Säure den Hals hinauftreiben.«
»Ich gebe offen zu, dass ich ein glühender Verehrer Eurer Kunst bin, Meister Alsenbrunn. Einen wie Euch gibt es kein zweites Mal.«
»Das ist sicher! Denn gäbe es einen zweiten Richard von Alsenbrunn, wäre das schlimmer als die Sintflut, die unser Herrgott über die Welt gebracht hat.«
De Bruce räusperte sich. »Wenn Ihr wollt, könnt Ihr gerne Euren Disput fortsetzen, für mich aber ist noch einiges zu tun.« Er marschierte samt seiner vierbeinigen Gefährten ins Hauptgebäude, den Palas der Burg.
Wendel kratzte sich verlegen am Kopf. »Meister Alsenbrunn, ich bin etwas überrascht, aufs Angenehmste überrascht selbstverständlich. Ich wusste von keinem Fest. Dürfte ich vielleicht erfahren ...«
»Ihr dürft, und ich erzähle Euch gerne, was ich weiß. Es ist kein Geheimnis. De Bruce zahlt gut, und er hat gleich zwei Anlässe, morgen zu feiern. Der eine ist seine Amme Emelin. Er feiert ihren Geburtstag; der sechzigste soll es wohl sein. Da niemand weiß, wann sie geboren wurde, hat de Bruce beschlossen, dass es vor sechs Jahrzehnten zu Sankt Elmo gewesen sei. Der zweite Anlass ist, dass der Graf, der, wie ihr sicherlich wisst, weder eine Gemahlin noch einen Erben hat, denn beide sind ihm schon vor vielen Jahren verstorben, dringend ein Weib braucht, das diesen Zustand beendet. Es ist Brautschau, und da de Bruce nur ungern seine Burg verlässt, kommen die Jungfrauen zu ihm. Morgen Abend will der Graf sich ein Weib wählen, und schon in der kommenden Woche soll Hochzeit sein. So können die Gäste gleich hierbleiben. Als Brautwerber hat er seinen besten Mann ins Feld der Liebe geschickt, Eberhard von Säckingen, einen Ritter alter Schule.« Alsenbrunn grinste. »Ich rede und rede und rede, am Ende bleibt mir noch die Stimme weg, und ich werde geteert und gefedert aus der Burg gejagt. Wohlan! Wir sehen uns morgen, wenn die Nacht über die Adlerburg herrscht. Gehabt Euch wohl bis dahin.«
Alsenbrunn nahm den Kasten mit »Engelsholz« und zog sich in den Palas zurück. Wendel blieb noch ein paar Minuten an der Bühne stehen und stellte sich vor, wie es wäre, darauf zu stehen und die Menschen mit Wort, Gesang und Harfenspiel zu verzaubern. War das nicht viel erstrebenswerter, als sich mit Schwert und Lanze die Glieder zu zerschlagen oder jahraus, jahrein mit Fässern beladene Karren durch die Lande zu steuern?
Er seufzte. Leider waren seine Ausflüge in die Welt des Gesanges kläglich gescheitert. Sein Lehrer hatte ihn eines Tages zur Seite genommen, ganz wie sein Vater es immer tat, und
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