Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
Vom Netzwerk:
verfielen aber in Schweigen, sobald sie Melchior sahen, bekreuzigten sich und beschleunigten ihre Schritte.
    Während Melisande ausschritt, sah sie den immer gleichen Ablauf vor sich: Sie zeigte de Bruce den Kreisschritt, er stellte sich dumm an, stolperte, sie ritzte ihn mit dem Schwert, er fluchte, würde aber nichts gegen Melchior unternehmen, war er doch selbst schuld. Sie übten weiter, bis die Zeit abgelaufen war. De Bruce warf Melchior eine Münze vor die Füße und verzog sich mitsamt seinem Gefolge. Bald darauf würde die Kunde übers Land wehen, dass Graf Ottmar de Bruce seinem Sohn in die kalte Gruft gefolgt sei. Niemand würde sich seinen Tod erklären können, denn de Bruce aß niemals Speisen, die nicht vorgekostet waren. Die kleine Wunde, die ihm beim Üben mit dem Schwert beigebracht worden war, hatte sich nicht einmal entzündet, sie konnte also nicht für seinen Tod verantwortlich sein. Der Todeskampf des Grafen hatte lange gedauert. Kein Aderlass, keine Tinktur und kein Antidot hatten ihn retten können. Also musste es Gott selbst gewesen sein, der ihn zu sich geholt hatte, und Gottes Wille wurde nicht in Zweifel gezogen.
    Melisande drängte sich an einem Fuhrwerk vorbei, das ein halbes Dutzend riesige Fässer geladen hatte. Inzwischen lag das Flusstal hinter ihr, und es ging steil bergauf. Die beiden Gäule dampften, und der Fuhrknecht, der sie antrieb, schwitzte nicht weniger. Ein kurzes Stück später verließ Melisande die Steige. Ein schmaler Pfad wand sich hier zur Hochebene hinauf, er war menschenleer, wurde wenig genutzt. Die Bäume verströmten einen harzigen Duft, nur einige Krähen schrien, ansonsten lag der Wald still.
    Plötzlich hörte Melisande Hufschlag, der rasch näher kam. Ein Reiter im gestreckten Galopp. Erstaunt horchte sie, dann trat sie zur Seite und drückte sich ins Unterholz. Jeden Moment musste der Reiter von rechts um die Biegung kommen. Der Hufschlag wurde lauter, und da tauchten Pferd und Reiter auch schon auf.
    Melisande stockte der Atem. Auf dem Rappen saß Adalbert. Ihr Adalbert. Da hörte sie ein weiteres Geräusch, das sie kannte. Wildschweine. Sie brachen direkt vor dem Reiter durch das Dickicht, eine ganze Rotte, mehrere Bachen mit ihren Frischlingen. Der Rappe stieg und bockte. Adalbert flog in hohem Bogen aus dem Sattel und landete mit dem Rücken unsanft auf dem harten Waldboden. Das Pferd sprang nach vorne, um nicht auf seinen Reiter zu treten, und bockte noch einige Male. Die letzte Bache verzog sich, folgte dem Rest der Rotte, der bereits wieder zwischen den Bäumen verschwunden war. Das Pferd rollte noch ein wenig mit den Augen, dann ließ die Panik nach, es blieb stehen und suchte sich ein paar Grashalme, die es genüsslich auszupfte, als wäre nichts geschehen.
    Melisande wusste nicht, was sie tun sollte. Adalbert lag dort, keine zehn Fuß von ihr entfernt, und brauchte vielleicht ihre Hilfe. Aber was, wenn sie ihn berührte und er dabei erwachte? Nicht auszudenken! Wenn sie ihm jedoch nicht half und er starb, würde sie sich ihr ganzes Leben lang Vorwürfe machen.
    Aus einer Wunde an seinem Hinterkopf sickerte Blut. Sie nahm einen kleinen Stein und warf ihn in seine Richtung. Er rührte sich nicht, obwohl sie seine Nase traf. Warum wachte er nicht auf?
    Melisande bekreuzigte sich, lief zu ihm hin und erschrak zu Tode, als er tief stöhnte. Unschlüssig stand sie da und blickte auf ihn hinunter. Wie schön er war! Die hohe Stirn, die vollen Lippen, die Wärme der Augen, die sie selbst durch die geschlossenen Lider spürte. Leise kniete sie neben ihm nieder und tastete vorsichtig seinen Hinterkopf ab. Warmes Blut, sein Blut, benetzte ihre Hand.
    Melisande zitterte, wie sie noch nie gezittert hatte. In ihrem Bauch schienen hundert Frösche hin und her zu springen. Sein Schädel war offensichtlich nicht gebrochen. Was für ein Glück! Sie legte eine Hand auf seine Brust. Ja, sie hob sich unmerklich, und auch sein Herz schlug, wenn auch schwach. Jetzt die Gliedmaßen. Alle Knochen schienen heil zu sein. Sein Schutzengel hatte Adalbert nicht im Stich gelassen, aber er war noch immer in Gefahr. Er konnte nicht hier liegen bleiben. Wenn er nicht rechtzeitig aufwachte, würde er in der Nacht auskühlen. Oder ein Bär, eine Raubkatze oder ein Wildschwein könnten ihn angreifen und töten. Es blieb nur eine Möglichkeit: Sie musste ihn auf sein Pferd hieven und irgendwie zur Berkheimer Steige schaffen, ohne dass sie gesehen wurde. Natürlich konnte Adalbert

Weitere Kostenlose Bücher