Henkerin
keinem von ihnen ging eine ernsthafte Gefahr aus. »Ich gebe Euch einen guten Rat, Bursche«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Geht nach Hause, und schlaft Euren Rausch aus, und wenn Ihr wieder nüchtern seid, geht Eurem Vater bei der Arbeit zur Hand. So lernt Ihr etwas über Wein und wisst beim nächsten Mal, wenn Ihr mich trefft, wovon Ihr redet.«
Wendel wandte sich ab, um die Kerle mit dummen Gesichtern stehen zu lassen, doch noch bevor er zwei Schritte getan hatte, packte ihn der mit dem großen Mundwerk am Umhang. »Ich kann meinem Vater nicht zur Hand gehen«, zischte er wütend. »Denn es gibt keine Arbeit mehr für ihn! Ihr habt ihm mit Euren krummen Geschäften die Kundschaft geraubt. Ihr seid ein Verbrecher! Aber wartet nur ab, Ihr werdet bezahlen. Die Esslinger Weinbauern stehen zusammen. Keinen Fuß werdet Ihr mehr in die Stadt setzen. Und Euren Wein könnt Ihr in Zukunft selbst trinken. Den rührt hier niemand mehr an!«
Die ersten Schaulustigen waren stehen geblieben und glotzten die Streithähne neugierig an.
Wendel machte sich los. »Nehmt Eure Finger weg, Bürschchen! Und hütet Eure Zunge. Seid froh, dass ich ein langmütiger Mensch bin. Nicht jeder Mann, den Ihr auf offener Straße derart beleidigt, würde Euch so einfach davonkommen lassen.«
Aber der Kerl hatte noch nicht genug. Seine Hand zuckte nach vorne, aber diesmal war Wendel gewarnt und schlug sie mit einem kurzen, harten Hieb seiner Rechten zur Seite, sodass sich sein Gegner einmal um seine eigene Achse drehte. Dessen Kumpane wichen zurück.
Jetzt erst erkannte Wendel, wer sein Angreifer war: Benedikt Rengert, Sohn des Jobst Rengert, der tatsächlich kurz vor dem Ruin stand, aber nicht weil der Füger’sche Wein den seinen verdrängt hatte. »Ihr seid Benedikt Rengert, nicht wahr?«
»Was schert es Euch, Ihr gemeiner Beutelschneider! Ihr Schuft! Hurenknecht! Stinkender Dreckshund!«
Wendel zögerte. Was sollte er jetzt machen? Den Rengert verprügeln?
Immer mehr Leute sammelten sich in der engen Gasse, gafften und warteten wohl auf einen anständigen Händel. Aber darauf würde sich Wendel nicht einlassen. Er würde hier und jetzt klarstellen, warum Jobst Rengert vor dem Ruin stand und dass er nichts damit zu tun hatte. »Hört, Leute. Dieser Bursche hier ist betrunken, was nicht schwer zu erkennen ist«, rief er.
Einige brummten zustimmend. Benedikt Rengert blieben die Worte im Hals stecken, er wankte, blieb aber stehen und schwieg.
»Es ist wahr, dass sein Vater, Jobst Rengert, einst ein angesehener Weinbauer, in großen Schwierigkeiten steckt. Aber das hat er sich selbst zuzuschreiben. Er hat Verträge nicht eingehalten, und die Qualität seines Weines lässt zu wünschen übrig. Das ist die Wahrheit.«
Wendel schaute sich um, und in den Mienen der Umstehenden konnte er ablesen, dass seine Rede nicht allzu klug gewesen war. Wo er vorher Neugierde gesehen hatte, machte sich jetzt Ablehnung breit, die Situation drohte zu kippen. Benedikt Rengert schnappte nach Luft, offenbar holte er zum Gegenschlag aus.
Wendel beschloss, sich auf keine weitere Auseinandersetzung einzulassen, und verzog sich in die Alte Milchgasse. Sein Herz klopfte heftig, sein Atem ging schnell. Der junge Rengert hatte ihn zu Unrecht beschuldigt, keine Frage, aber dennoch hatte die Begegnung ein ungutes Gefühl bei ihm hinterlassen. Bisher hatte es keiner der übrigen Esslinger Weinbauern der Familie Füger übel genommen, dass sie als Fremde Geschäfte in der Stadt machte. Es gab genug Kundschaft für alle. Allerdings wusste Wendel, wie schnell ein böses Gerücht die Runde machen konnte. Eine Anschuldigung wie die, die Benedikt Rengert soeben geäußert hatte, konnte ausreichen, um nicht nur die gesamten Weinbauern, sondern alle Bewohner der Stadt gegen sie aufzubringen. Und die Verteidigungsrede, die er selbst vorgebracht hatte, war nicht dazu geeignet gewesen, seiner Familie Freunde zu machen, mochte sie auch der Wahrheit entsprechen.
***
Als Melisande erwachte, regnete es in Strömen. Das heitere Wetter der letzten Tage hatte sich verzogen, launische Windböen peitschten über die Kräuterbeete in dem kleinen Garten neben dem Henkerhaus und rüttelten an den Lumpen vor den Fensteröffnungen. Melisande sprang aus dem Bett, kleidete sich an und goss Wasser in den Topf, der über der Glut hing. Mit ein paar Scheiten entfachte sie ein Feuer und ging dann in Raimunds Schlafkammer. Sie erschrak, als sie ihn sah. Über Nacht war sein Gesicht noch schmaler
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