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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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ich will doch nur, dass Ihr Frieden findet, dass Ihr dieses finstere Kapitel Eures Lebens endgültig schließt. Ihr werdet morgen heiraten. Eure Braut ist jung und schön und wird Euch sicherlich viele gesunde Söhne gebären. Ihr seid ein mächtiger, angesehener Graf. Lasst nicht zu, dass dieser alte Hass Euch auffrisst.«
    »Ha!« Grob stieß de Bruce sie von sich weg, sodass sie taumelte und zurück auf den Stuhl sank. Das war nicht seine Emelin! Die Teufelin Melisande musste in sie gefahren sein. »Wo ist sie? Wo ist Melisande?«, brüllte er, beugte sich zu Emelin hinunter, packte sie bei den schmalen Schultern und schüttelte sie. »Wo?«
    Er holte aus, seine Hand schwebte über ihrem Gesicht, wie ein Adler, bereit, sich auf seine Beute zu stürzen. Plötzlich verschwand der rote Nebel, und vor ihm saß seine Emelin, die ihn vollkommen verängstigt anstarrte.
    »Du musst mir verzeihen«, stammelte er, über sich selbst erschrocken. »Niemals wollte ich dir Schmerzen oder Kummer bereiten.« Tränen schossen ihm in die Augen, halb blind umfasste er das schmale Gesicht der Amme mit seinen groben Händen und küsste sie auf die Stirn, auf die Wangen und den Mund. »Bitte verzeih mir.«
    »Mein lieber Ottmar!« Auch Emelin weinte. »Es gibt nichts, was ich Euch verzeihen müsste, mein Junge. Ich hätte nicht solche dummen Dinge sagen sollen.«
    Ottmar de Bruce ließ sie nicht weitersprechen. Er presste ihren zerbrechlichen alten Körper an seine Brust und schluchzte hemmungslos.
    Lange verharrten sie so, bevor sich de Bruce von seiner Amme löste und sie zur Tür führte. Er wollte sie in ihre Kammer bringen, doch sie bestand darauf, allein zu gehen. Er blickte ihr nach, wie sie den schwach beleuchteten Korridor entlanglief, auf den Stock gestützt, doch voller Würde. Als ihre Schritte verhallt waren, schloss er die Tür. Er trat wieder ans Fenster, hinter dem inzwischen die ersten Sterne aufgingen.
    »Oh nein, dieses Kapitel meines Lebens ist noch nicht geschlossen«, wisperte er in die Dunkelheit der Nacht. »Ich habe einen Schwur geleistet. Jeder Spross der Familie Wilhelmis zahlt mit seinem Blut für das meinige, das Konrad Wilhelmis vergossen hat.«
    Hastig zog er sein Messer aus dem Gürtel. Einige Augenblicke betrachtete er die Klinge im flackernden Licht der Talglampe, dann schob er seinen Ärmel hoch und fügte den Narben auf seinem Arm eine weitere blutige Linie hinzu. Der Schmerz und der Anblick des frischen, warmen Blutes waren eine Wohltat. »Ottmar de Bruce hält seine Schwüre. Er wird erst Ruhe finden, wenn auch die letzte Wilhelmis von seiner Hand gestorben ist.«
***
    Raimund Magnus stöhnte kaum hörbar. Schon seit dem frühen Morgen ging sein Atem schwer und röchelnd. Die Brust unter dem weißen Sterbekleid, das Melisande ihm gegen Mittag übergestreift hatte, hob und senkte sich in unregelmäßigen Abständen.
    Verzweifelt hatte sie versucht, einen Priester zu finden, der Raimund die Beichte abnahm und ihm die letzte Ölung verabreichte, doch jeder Einzelne, dem sie ihre Tafel mit der Bitte um Beistand entgegengestreckt hatte, hatte den Kopf geschüttelt und sich hastig abgewandt. Der Pfarrer der St. Dionyskirche hatte wenigstens so viel Anstand bewiesen, vor Scham zu erröten und vorzuschützen, dass er im Hause eines reichen Kaufmanns gebraucht werde, doch als sie ihm signalisierte, dass er doch danach zu Raimund kommen könne, hatte auch er ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen.
    Melisande wusste, dass der Henker keine Aussicht auf eine Totenmesse und ein christliches Begräbnis in geweihter Erde hatte, doch dass man ihm sogar die Sterbesakramente verweigerte, war unrecht. Verübte der Henker nicht sein Handwerk im Namen aller Bewohner der Stadt? Und im Namen Gottes? Warum waren die Menschen dann so undankbar, dass sie ihn ohne göttlichen Segen aus dem Leben scheiden ließen?
    Erschöpft und den Tränen nah war sie von ihrem Rundgang zurückgekehrt und hatte Raimund von ihrem Misserfolg erzählt. Wider Erwarten war er nicht bekümmert gewesen, sondern hatte mit einem schwachen Lächeln ihre Wangen gestreichelt. Seine Finger hatten sich angefühlt wie raschelnde Grashalme, schwach und dürr.
    Seit Stunden saß sie bei ihm, trocknete ihm gelegentlich die Stirn, auf der sich immer wieder kalte Schweißperlen sammelten, und hielt seine Hand. Gerade war die Sonne hinter der Stadtmauer versunken, langsam fiel die Dämmerung über das Haus. Melisande horchte nach draußen. Wenigstens Meister

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