Henkersmahl
diesmal reagieren würde, da er bereits mehrfach versucht hatte, ihn telefonisch zu erreichen. Die Nummer hatte er von Katja besorgt, sie war es auch, die wusste, dass Garcia in Bickendorf lebte. Er war 17 Jahre alt und entstammte einer Migrantenfamilie. Seit sechs Monaten war er neuer Anführer der sogenannten Bickendorf Boys, die als extrem gewaltbereit galten. Der vorherige Anführer, gerade mal 15 Jahre alt, war vor einigen Jahren vom Kölner Gericht zu sechseinhalb Jahren Jugendstrafe wegen Körperverletzung in drei besonders schweren Fällen sowie wegen unerlaubtem Waffenbesitz, Raub und Drogenhandel verurteilt worden.
Florian überlegte. Wenn Garcia Max nicht umgebracht hatte, würde er vielleicht Kontakt zu ihm aufnehmen. Allerdings wäre es durchaus möglich, dass er sich selbst dann meldete, wenn er etwas mit Max’ Tod zu tun hatte. Wahrscheinlich sogar gerade dann. Sicher wollte er in diesem Fall wissen, wer ihm hinterherspionierte. Florian stützte den Kopf in beide Hände. So oder so war Vorsicht geboten.
Während er versuchte, die Gedanken an Garcia beiseitezuschieben, wählte sich ins Internet ein. Florian rief die Homepage von Fresko auf. Sie war grafisch gut gemacht, das musste er zugeben. Eine übersichtliche Darstellung der Produktpalette und Umsatzzahlen. Auch der neue Frischkäse wurde präsentiert. Er war mit probiotischen Enzymen angereichert, wie schon viele Milchprodukte in der Vergangenheit. Florian druckte die wichtigsten Unternehmensinformationen aus, der Name des Geschäftsführers kam ihm irgendwie bekannt vor. Fresemann. Fresemann? Hatte seine Mutter den Namen nicht schon einmal erwähnt? Er würde sie fragen, aber vorab rief er auch noch die Website des Schokoladenherstellers auf, der ebenfalls ein Produkt mit dem Glutamatderivat auf den Markt gebracht hatte. Während er sich durch die Seite klickte, machte er sich ein paar Notizen über Produkte und Namen der Führungsriege, beendete die Internetsitzung und wählte die Telefonnummer seiner Mutter. Eine Weile musste er warten, bis jemand abnahm, aber dann war Marie-Louise selbst am Apparat.
»Schön, dass du anrufst«, begrüßte sie ihn mit gedrückter Stimme.
»Wie geht es dir?«
»Ich versuche mich abzulenken und lerne gerade meine Rollentexte.« Sie seufzte und gab zu: »Aber es fällt mir schwer.«
»Kein Wunder«, Florian räusperte sich. »Mach einen Spaziergang, das tut gut. Oder spiel einfach ein kleines Match Tennis.«
»Vielleicht gar keine schlechte Idee, auch wenn mir eigentlich nicht danach zumute ist. Aber beim Tennisspielen kann ich wenigstens abschalten.« Marie-Louise philosophierte: »Für eine Stunde wird ein kleiner Filzball zum Mittelpunkt deines Lebens. Es gibt nur ihn, deine Lunge und dein Herz. Sonst nichts.«
»Genau so eine Stunde brauchst du jetzt«, redete Florian seiner Mutter zu. Sie tat ihm leid, denn er wusste, dass sie sich Max’ Tod sehr zu Herzen nahm, aber gleichzeitig regte sich in ihm ein bitteres Gefühl darüber, dass sie nicht einmal daran dachte, sich nach seinem Befinden zu erkundigen, schließlich war Max sein bester Freund gewesen. Einen weiteren Augenblick verharrte er in Schweigen, in der Hoffnung, dass sie die Frage stellen würde, aber Marie-Louise fragte nicht. Er spürte den alten Groll gegen seine Mutter aufsteigen, aber inzwischen konnte er ganz gut damit umgehen. Oft hatte er darunter gelitten, dass sie in erster Linie an sich dachte. Allein ihre Weigerung, ihm den Namen seines leiblichen Vaters zu verraten, hatte ihn früher fast um den Verstand gebracht. Es war gut, dass er inzwischen eine Therapie machte, aber seiner Mutter hatte er selbstverständlich davon nichts erzählt. Florian sah hinaus aus dem Fenster auf den Hansaring und beobachtete Passanten, die eilig über den Bürgersteig hasteten.
»Mit wem spielst du eigentlich in letzter Zeit?«, fragte er.
»Mit meiner Nachbarin.«
»Spielst du nicht auch hin und wieder mit Fresemann?«
Es entstand eine Pause, dann sagte Marie-Louise zögernd: »Gelegentlich. Fresemann ist erst seit ein paar Monaten wieder aktiv. Wieso interessiert dich das eigentlich?«
»Ich würde auch gern mal wieder spielen.«
»Weißt du überhaupt noch, wie das geht?«
»Ehrlich gesagt, ich dachte, du könntest mir vielleicht bei einer Verabredung behilflich sein«, gab Florian zu.
»Aha. Und mit wem willst du spielen, wenn nicht mit mir?«
»Mit Fresemann.«
In der Leitung blieb es still.
»Mutter?«
Marie-Louise räusperte sich.
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