Henkersmahl
verrückt. Sie ist absolut grundlos. Fünf oder sechs Flaschen davon habe ich auch selbst schon getrunken.«
Weidner versuchte, seinem Freund ins Gesicht zu sehen. Aber Schäfer stand weiterhin halb gebeugt vor der Mauer und so musste er sich bücken, um halbwegs einen Blickkontakt herzustellen. »Und du hast nichts gemerkt?«
»Sehe ich vielleicht tot aus?«
Burkhard Weidner lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer. Irgendwie glaubte er Horst nicht. Er überlegte seit dem Gespräch mit Tim wohl zum hundertsten Mal, ob er nicht einen Selbstversuch wagen müsste. Aber was wäre, wenn er damit sein Leben aufs Spiel setzte? Schließlich verwarf er den Gedanken wieder, denn er musste sich eingestehen, dass er tatsächlich Angst hatte.
Er überlegte weiter. Vorausgesetzt Horst würde wider Erwarten einer umfangreichen gemeinsamen Verkostung zustimmen, müsste er mit einer ungeheuren Blamage rechnen, falls es ihm oder ihnen danach bestens ginge. Er war sich sicher, dass Horst dann jeglichen Respekt vor ihm verloren hätte. Zugegeben, von Weinherstellung hatte er wenig Ahnung, aber immerhin hatte er einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass der neue Wein überhaupt entwickelt werden konnte. Grübelnd starrte er auf Horst Schäfers Rücken und beobachtete, wie er immer mehr Ritzen in der Mauer mit Zement füllte.
Am liebsten würde er Horst erzählen, dass Tim in die Sache verwickelt war, aber er schwieg. Es würde nur Ärger geben. Horst käme vielleicht auf die Idee, ihre Partnerschaft zu beenden und dieses Risiko war ihm zu hoch. Das Geld für die Forschung war schließlich bereits geflossen.
Er blickte in den Himmel, an dem zwischen einer grauen Wolkendecke ein hellblauer Streifen sichtbar wurde. Gedankenverloren beobachtete er, wie sich der Streifen langsam verbreiterte und einige Sonnenstrahlen den Weg hinunter zu Schäfers Hof fanden. Burkhard Weidner öffnete seinen Mantel, um das Gefühl wohltuender Wärme so dicht wie möglich an sich heranzulassen. Er sagte sich, dass Horst wahrscheinlich recht hatte. Ihr neuer Wein, von dem sie sich eine erhebliche Geschmacksverbesserung durch mehr Zuckergehalt in den Trauben und mehr Aromen erhofften, sollte im späten Frühjahr auf den Markt kommen. Vielleicht winkten ihnen sogar Auszeichnungen. Immerhin hatte Horsts Frau, die Kellermeisterin war, das ihrige dazu beigetragen, dass er ganz hervorragend werden konnte. Vermutlich hatte der Wein rein gar nichts mit den Krankheitsfällen zu tun. Burkhard Weidner schüttelte sich unmerklich. Wahrscheinlich hatte Tims Drogenkonsum nicht nur bei seinem Sohn, sondern auch bei ihm schon zu Zwangsvorstellungen geführt.
Im Forschungslabor, in dem die Inhaltsstoffe wie zum Beispiel die Ascheanteile, die Säuren und das enthaltene Glyzerin untersucht wurden, hatte man keinerlei Unregelmäßigkeiten festgestellt, und das gab berechtigten Anlass zur Hoffnung, dass eine ganz andere Ursache hinter den Krankheitsfällen steckte, die Köln beunruhigten.
Burkhard Weidner fragte sich, in welchem Ausmaß die antiautoritäre Erziehung, die er und Barbara praktiziert hatten, Schuld an der Haltlosigkeit ihres Sohnes war. Oder war Tim ein geborener Verlierer? Gab es so etwas überhaupt? Und wenn, wessen Gene wären hierfür verantwortlich, seine oder Barbaras? Immerhin, wenn er seine Ahnenreihe im Geiste durchging, stieß er auf einige Loser. Es hatte in seiner Familie Fälle von Alkoholproblemen, Spielsucht und totalem wirtschaftlichen Ruin gegeben. Burkhard Weidner seufzte. Er wollte es sich aber nicht zu einfach machen und die Schuldfrage auf genetische Zusammenhänge reduzieren. Waren er und Barbara zu nachsichtig gewesen, als sie bemerkten, dass Tim die ersten Joints rauchte? Hätten sie ihm eindeutigere Grenzen aufzeigen müssen, als er nächtelang fernblieb? Als sie bemerkten, dass Geldscheine im Portemonnaie fehlten? Tim hatte selbstverständlich nie zugegeben, sie zu beklauen, aber eigentlich hatte jeder von ihnen ganz genau gewusst, welche Wahrheit sich hinter seinem unschuldigen Augenaufschlag und den einschmeichelnden Worten und Beteuerungen verbarg. Aber sie hatten sich nicht eingestehen wollen, dass sie allesamt Theater spielten. Die Frage nach dem Warum würde er sich vielleicht nie beantworten können, oder auch nicht wollen, dachte Burkhard Weidner selbstironisch, aber eines stand fest: Es tat höllisch weh, erkennen zu müssen, dass Tim nicht zu den Gewinnern dieser Welt zählte. Ein unerwartetes Klopfen auf die
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