Hennessy 02 - Rätselhafte Umarmung
nachgelassen hatte. Mit sanfter Gewalt löste sie die Finger ihrer Mutter aus dem inzwischen ziemlich verbeulten Vogelkäfig. »Mrs. Anderson hat diesen Vogelkäfig gekauft. Wir veranstalten heute einen Flohmarkt, Mutter. Wir können die vielen Möbel nicht mit nach San Francisco nehmen, deshalb verkaufen wir sie.«
Sie wandte sich an die Arzthelferin, der die Perücke schief auf dem Kopf saß, und lächelte verlegen. »Es tut mir leid, Mrs. Anderson. Mutter ist ein bisschen ... verwirrt heute.«
»Schon recht, Miss Lindquist.« Die Frau schüttelte sich wie eine Taube, der man das Gefieder zerzaust hat. »Ich verstehe schon.«
»Aha, jetzt wird mir einiges klar.« Addie drehte sich zu ihrer Tochter um. »Du bist mit von der Partie. Es ist eine Verschwörung.«
»Es ist ein Flohmarkt, Mutter«, erklärte Rachel wieder. Sie biß die Zähne zusammen, um sich ihren Zorn und ihr schlechtes Gewissen nicht anmerken zu lassen.
Es war eine Verschwörung. Daran war nicht zu rütteln. Sie hatte heimlich ihrer Mutter die Verfügungsgewalt über ihren Besitz entrissen. Daß ihr keine andere Wahl blieb und daß sie ganz legal handelte, da Addie die Geschäfte nicht mehr führen konnte, änderte nichts daran. Nicht einmal die Tatsache, daß ihre Finanzen zusehends schrumpften und daß das Finanzamt vor der Tür stand, konnte ihr Gewissen beruhigen.
»Ich rufe die Polizei«, erklärte Addie bestimmt.
Rachel ließ die Schultern hängen und seufzte schwer, während sie ihrer Mutter nachsah, die wütend davonstapfte. Sie wägte ab, was wohl anstrengender wäre - Addie vom Telefonieren abzuhalten oder später Deputy Skreawupps Wutausbruch über sich ergehen zu lassen. Plötzlich sprang Bryan in den Flur, eine Faschingströte an den Lippen und den Zauberhut schief auf dem Kopf.
»Hennessy!« fuhr Addie ihn an. »Was hat das zu bedeuten?«
»Was für eine phantastische Party!« rief Bryan und schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. Er zog mit einer großen Verbeugung den Hut und zauberte eine zweite Tröte für Addie daraus hervor. »Schenken Sie mir ein Tänzchen auf dem Rasen?«
Addie sah ihn böse an, aber ihr Blick wirkte unsicher. Was hier vorging, gefiel ihr nicht. Ihr gefiel nicht, daß sie anscheinend keine Kontrolle darüber hatte. Und die vielen fremden Gesichter in ihrem Haus machten ihr angst. Es waren so viele, daß sie kaum eines vom anderen unterscheiden konnte. Aber Hennessy kannte sie, und ihm vertraute sie:
»Ich finde Ihre neue Frisur wundervoll, Addie«, lobte er sie. »Sie ist so ... jugendlich.«
Addie fuhr sich mit der Hand über ihre Frisur und errötete wie ein Schulmädchen. Sie hatte die langen Haare mit einer Zickzackschere abgeschnitten, weil sie vergessen hatte, wie man Zöpfe flechtet. Jetzt stand ihr das Haar wirr vom Kopf ab und ließ sie aussehen wie einen frechen Kobold. »Sie sind ein Schmeichler, Sie alter irischer Schlingel.«
Bryan nahm ihren Arm und führte sie durch die Eingangshalle zur Tür. Bevor sie auf die Veranda traten, zwinkerte er Rachel kurz zu.
Rachel lächelte erleichtert und flüsterte unhörbar: »Danke.« Dann klemmte sie sich das Schreibbrett vor die Brust und blies sich seufzend die Locken aus der Stirn, die sich längst aus ihrer praktischen Frisur gelöst hatten. Was hätte sie in den letzten Tagen nur ohne Bryan angefangen? Was sollte sie nur ohne ihn anfangen, wenn sie und Addie erst in der Stadt wohnten?
»Es ist wirklich unglaublich, nicht wahr?«
Überrascht drehte sie sich zu der Stimme um, die plötzlich zu ihr gesprochen hatte. Alaina Montgomery-Harrison stand neben ihr, kühl und unnahbar wie immer. Sie trug ein Pierre— Cardin- Ensemble, das aus einem schwarzen Faltenrock und einem cremefarbenen Pullover bestand. Die große, elegante Frau gehörte zu Bryans vielen Freunden, die gekommen waren, um beim Verkauf zu helfen.
Rachel fragte sich, wie die Frau es schaffte, immer noch so tadellos auszusehen. In den vier Stunden seit Verkaufsbeginn hatte keiner von ihnen auch nur eine ruhige Minute gehabt. Sie entschied, daß Alaina zu den wenigen glücklichen Frauen gehören musste , die schon, wenn sie morgens aus dem Bett stiegen, aussahen wie auf einer Anzeige für Schönheitscreme.
»Bryan«, half Alaina ihr lächelnd auf die Sprünge.
»Ja.« Rachel schüttelte den Kopf. »Er ist wirklich unglaublich.«
Sie waren für einen kurzen Augenblick allein im Gang. Alaina fixierte Rachel mit einem scharfen, durchdringenden Blick, der ihr das Gefühl gab,
Weitere Kostenlose Bücher