Henningstadt
ausschließlich aus gutnachbarschaftlichen Leihgaben. Das fertige Backwerk wird anschließend wie der in der Nachbarschaft verteilt. Aber jeder gibt gerne. Die drei sind so zwischen sechzig und siebzig, relativ rüstig für ihr Alter – nur die Größte ist vielleicht schon ein bisschen tatterig – , und sie sind ein bisschen wunderlich. Seit Jahren leben sie gemeinsam in einer Wohnung zwei Häuser entfernt von dem Haus, in dem Henning und sei ne Familie wohnen. Ihre drei Männer liegen nebeneinan der auf demselben Friedhof. Nachdem der letzte lebende Gatte der Pernaz-Schwestern selig geworden war, sind die beiden anderen zu der just verwitweten Schwester ge kommen, um sie zu trösten. Haben da übernachtet, weil der Dritten die Nächte besonders schlimm waren. Nach dem dieses Provisorium ein paar Wochen gedauert hat, haben sie einen Schwestern-Rat abgehalten und beschlos sen zusammenzuziehen. Die eine wohnt hinter spani schen Wänden im Wohnzimmer, die andere im ehelichen Schlafzimmer und die Dritte im ehemaligen Kinderzim mer.
Henning schließt auf und ignoriert den Geruch der Wohnung, der sich langsam wieder gegen das Parfüm durch zusetzen beginnt.
«Vielen Dank», sagt Henning. «Wollen Sie nicht einen Moment reinkommen?», fügt er an, weil seine Mutter das sagen würde.
«Ach, nein, heute nicht, ein andermal gerne», sagt die Kleinste, die jetzt die Vorderste ist, weil sich die Schwes tern schon umgedreht haben. «Wir müssen noch weite r» , erklärt die Mittlere. «Den Kuchen loswerden», schließt die Dritte ab. «Immer Kuchen», stöhnt eine. Die drei ver schim mern hinter dem Milchglas der Haustür.
Henning kratzt sich am Kopf. Merkwürdige Existen zen gibt es und seltsame Hobbys. Wie dem auch sei. — Er wird sich fein machen für Isabell und welchem Schicksal auch immer gewappnet ins Auge blicken. Den Kuchen gibt es zum Nachtisch.
Isabell geht die Stufen zu Hennings Wohnung herauf. Sie will ihm einfach erzählen, was los war. Was los war mit ihr und Andreas. Und warum sie sich von ihm ge trennt hat, damit Henning weiß, worauf er sich einlässt und nicht dieselben Sachen falsch macht wie Andreas, falls sie nun also ihre Verabredung wahr machen und ein Paar werden. Damit er weiß, woran er ist. Das könnte ein guter Anfang sein für eine Beziehung, denkt sich Isabell. Und dass sie sich von ihm getrennt hat, und nicht umge kehrt, das wird sie auf jeden Fall auch deutlich machen. Damit klar ist, dass sie nicht zu den herumgestoßenen Mädchen gehört, die die Welt erleiden, wie sie über sie hereinbricht: in Gestalt von Freunden, Liebhabern und Vätern. Sie klingelt. Henning öffnet.
«Ich hab mich von Andreas getrennt, weil er mir auf die Nerven gegangen ist», sagt Isabell zur Begrüßung.
«O Gott!», sagt Henning.
«Darf ich vielleicht reinkommen?», zischt Isabell in ge spielter Schnippigkeit.
«Natürlich nicht», sagt Henning, macht die Tür vor ih rer Nase zu, um sie unmittelbar darauf wieder zu öffnen: «Schön, dass du da bist!» Beide lachen, und der Funke der Freundschaft springt herüber und hinüber. Die Harmonie ist perfekt in der Kleinigkeit des gemeinsamen Scherzes. Das ist es, was Henning an Isabell liebt: das Gefühl der Ge mein schaft.
«Das sind ja Neuigkeiten!», sagt Henning und führt sie in die Küche, wo er den Tisch schon gedeckt hat. Candle lightdinner, denkt Isabell, als sie den Tisch sieht, den Hen ning aber eher förmlich als romantisch gemeint hat. Er wird ihr sagen, dass er schwul ist. Jetzt besonders.
Er sieht, wie sie sich hinsetzt. Er sieht im Kerzenlicht, wie schön sie ist. Er schiebt das Zwiebelgemüse an den Rand der Pfanne und brät das Fleisch. Er weiß, dass er sie gerne anfasst und ihren warmen Körper spürt. Er weiß, dass er sie gerne anfasst und jedes Mal Angst hat, sie könn te wollen, dass er mit ihr schläft.
Er weiß nicht, warum er nicht mit ihr schlafen will. Er hat noch mit keiner Frau geschlafen und weiß, dass er schnell eingeschüchtert ist. Dass er nichts falsch machen will. Vielleicht hat er einfach nur Angst vor dem ersten Mal, denkt er sich. Er bringt die Teller an den Tisch. Sie ist schön, daran besteht kein Zweifel, und sie sind die besten Freunde, sie lieben sich, auch daran besteht kein Zweifel. Warum soll er also nicht mit ihr zusammen sein? Er seufzt in dem wonnigen Gefühl der Geborgenheit und der Harmonie bei Kerzenlicht. Er weiß nicht, wie es ist, mit einer Frau zu schlafen. Woher, fragt er sich, will er da wissen, dass
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