Henningstadt
fünfunddreißig Jahre.
Die Unlust, die ihn plötzlich befällt, schiebt er dem Umstand zu, nun von der alten und schönen Vorstellung von sich selbst als liebevollem Freund Abschied nehmen zu müssen. Zu wollen. Steffen ist frei und traurig. Glück lich wird er unter einer strahlenden Sonne von Städtchen zu Städtchen brausen, sich die alten Gemäuer ansehen und kurz mit Kellnern und Zigarettenverkäuferinnen plau dern. Er wird viel lesen und sich auch ansonsten als Einzelgänger benehmen, der er jetzt ist und der er in Wahr heit immer schon war.
Es tut ihm gut, allein zu sein. Ohne den Terror, einen Freund finden zu müssen. Ohne den Terror, einen Freund gefunden zu haben.
Wegen angeblicher Turbulenzen will das Air-France-Team Steffen nicht aufs Klo gehen lassen. «For your own safety», sagt der Steward und baut sich vor der Klotür auf. Steffen muss unverrichteter Dinge zurück zu seinem Platz. Die Turbulenzen, von denen man nichts merkt, hal ten die Stewardessen nicht davon ab, auf Pumps Parfüms und Zigaretten zu verkaufen. Steffen ist sauer, weil er mal muss. Das Flugzeug setzt zum Landeanflug an. Landean flug bedeutet, dass er erst in Frankreich aufs Klo kann. – Wenn er sich nicht entschließt, dem Steward auf die Füße zu pissen.
Sein Rucksack ist wohlbehalten angekommen und in Frankreich gibt es Toiletten. Er sitzt in seinem Mietauto und liest die Karte. Die Fahrt zu seinem Feriendomizil soll in zwei Etappen vor sich gehen, damit er sich unter wegs noch ein paar Orte ansehen kann. Zuerst kommt er nach Aix. Er geht zum Cours Mirabeau, trinkt Kaffee und sieht dem Treiben zu. Die französischen Jungs gefallen ihm ausnehmend gut. Es gibt eine bestimmte Form der Augen brauen, die Steffen sehr erotisch findet. Die gibt es oft beim südländischen Typ Mann.
Steffen streckt die Beine unter den Tisch und grunzt entspannt. Es ist heiß in Aix, aber die großen Kastanien tau chen die Straße in grünliche Dämmerung. Lichtflecke tanzen auf dem Boden hin und her. Französische Sprach fetzen wehen von den Nachbartischen zu Steffen hinüber. Steffen genießt die Ruhe inmitten der Leute, die um ihn herum wirbeln. Es gefällt ihm, dass er nichts versteht. Er ist einfach nur da und sieht allem zu, aber es geht ihn nichts an und er wird nicht gebraucht und er ist nicht gemeint. Er ist nicht da, weil er nichts versteht. Er ist wie ein Gemälde, das an der Wand hängt und dem Leben im Zimmer zusieht, als sei es ein Film.
Die Parkuhr ist für zwei Stunden bezahlt. Steffen steht auf, schaut sich noch mal um und geht zurück zum Park platz. Erst wundert er sich, dass die Autotür nicht abge schlos sen ist, das Knöpfchen ist oben. Dann sieht er, dass das Schloss mit dem Türblech elegant nach innen gebo gen ist. Ohne den Schritt zu beschleunigen geht er zum Kofferraum, schließt auf. Sein Rucksack fehlt.
Steffen setzt sich ins Auto, legt die Stirn aufs Lenkrad. Steffen schreit drei Mal laut auf.
Er fragt sich zur Polizei durch. Es ist halb acht. Sie ha ben schon zu, und er soll morgen wiederkommen, sagt ihm der junge Mann am prächtigen Empfangsschreib tisch. Steffen macht ihm klar, dass er nicht hier wohnt, und dann kann er doch noch seine Anzeige aufgeben. Die Unterhaltung findet auf Englisch und Französisch statt. Schließlich holt der junge Mann einen Ordner raus, hän digt Steffen einen französischenglischen Vordruck aus und bringt ihn in einen vom Foyer halb abgetrennten Raum. Da steht ein Tisch mit Schreibmaschine drauf. Ob Steffen einen Stift hat. Hat er. Auf dem Formular kann er jetzt ankreuzen, was ungefähr passiert ist.
Die ganze Sache ist himmelschreiend blöde. Ärgerlich für Steffen, der sich mindestens das Wichtigste neu besor gen muss, und ärgerlich für die Diebe, die den Kram eigent lich nur wegschmeißen können, was aber eine ziem lich dürftige Rache ist. Steffen kann sich nicht auf das blöde Formular konzentrieren. Er geht raus, eine rau chen. Der Empfangsbeamte winkt ihm, dass er auch drin nen rauchen darf. Steffen erschrickt, als ihm einfällt, dass er ein Stück Peace in der Tasche hat. Das fehlte gerade noch, dass die das merken. Aber der Polizist sieht fried lich zu ihm rüber. Er hat die eine Hand im Schoß, mit der anderen spielt er an seiner Pistole, die im Halfter an der Seite hängt. Steffen freut sich über diese erste Szene eines geilen Pornos. Vielleicht sollten sie lieber zusammen ein Tütchen rauchen. Nach einer halben Stunde ist er endlich mit dem Schrieb fertig, muss
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