Henningstadt
Toast, Cola, Salzstangen und als wichtigstes Element seiner Krankheitsdiät Kamillentee zu sich nehmen dürfe, das wisse er? Ja, das weiß er, sagt er, und es sei ja auch schon viel besser. Da freut sie sich für ihn. Und wie es ihm sonst so gehe, fragt Frau Schein schlag. Sie langweilt sich. Och, dass er einen interessanten Klassiker suche für die Schülerzeitung. Heine vielleicht, schlägt Frau Scheinschlag vor. Also Heine vielleicht, an den hat Henning auch schon gedacht. Der steht auch im elter lichen Wohnzimmer rum. Hennings Herz klopft. Jetzt muss er das Ding entweder mitnehmen oder sich är gern, dass er feige ist.
«Haben Sie schon unseren neuen Flyer gesehen, den von der Schwulen Initiative Henningstadt?»
Henning hat das Gefühl zu versteinern; er zerplatzt, bröselt in sich zusammen und fängt sich aus freiem Fall. Sie sieht ihm arglos in die Augen und strahlt:
«Wäre das nicht was für die Schülerzeitung? Ein aktu el les gesellschaftliches Thema. Und ob Sie ’ s glauben oder nicht, wahrscheinlich werden auch an Ihrer Schule ein paar schwule und lesbische Schüler sein!»
«Ja», sagt Henning mit beschlagener Stimme. «Wenn Sie meinen, schau ich mal.» Henning verabschiedet sich also und nimmt den Flyer mit.
«Wenn Sie noch Fragen haben wegen der Schwulen, dann könnte ich Ihnen die Nummer von meinem Cousin geben. Der ist ja so und wäre sicher bereit, mit Ihnen darü ber zu sprechen», tönt es vom Verleihtisch.
«Ja, vielleicht. – Danke.»
«Oh, bitte, bitte!», sagt Frau Scheinschlag, und Hen ning stolpert zur Tür raus.
Abgründe haben sich aufgetan und Frau Scheinschlag hat einen so-seienden Cousin. Dabei sieht sie ganz normal aus, denkt Henning. Dann fragt er sich, wie er denn bitte schön gedacht hat, dass Cousinen von schwulen Cousins aussehen. Vielleicht mit Warzen auf der Nase und rotem Haar? Henning schließt das Rad los. Hoffentlich sieht ihn keiner von den Lehrern; er ist ja krank. Henning ist er schrocken über seine eigenen Vorurteile. Oder wie soll man sagen. Und dann denkt er, wenn er schon Vorurteile hat, was sollen dann erst die anderen denken.
Zu Hause angekommen untersucht er sein Beutestück. Es ist sehr sachlich aufgemacht und enthält die Informa tion, dass es die Schwulengruppe Schwule Initiative Hen ning stadt gibt, wann und wo sie sich trifft und dass so wohl die persönliche gegenseitige Unterstützung bei Pro ble men mit dem Schwulen Leben als auch die politische Arbeit und last, not least, das gemütliche Beisammensein in entspannter Atmosphäre die Ziele der Gruppe sind. Interessierte sind willkommen und können einfach vor bei schauen. Es klingt nach Briefmarkenverein und Proble men. Das ist die erste Botschaft der ersten Stimme, die von echten Schwulen zu Henning dringt. Natürlich geht er hin. Gleich am Sonntag. Seine Eltern kommen erst Mon tag Abend zurück, so dass er sich dieses erste Mal keine Ausrede einfallen lassen muss. Normalerweise ver ab schiedet er sich und sagt, wohin er geht, wenn er das Haus verlässt. Er lügt nicht gern. Lügen haben kurze Bei ne und Henning ist eitel.
17
Henning ist aufgeregt. Er will mit irgend j emandem darüber sprechen. Darüber, dass er schwul ist. Dass die Sache nun beschlossen ist.
Isabell müsste gerade mit dem Mittagessen fertig ge wor den sein. Er ruft an.
«Kannst du vorbeikommen, Isa? Zum Kaffee oder so?»
Isabell ist wild entschlossen, alle Hausaufgaben der letz ten drei Tage zu erledigen, aber gegen sechs kann sie kommen. Also zum Abendessen. Henning schlägt vor, Steaks zu machen. Isabell bringt ihr Lieblingsbier mit.
Henning legt das Flugblatt auf den Küchentisch und setzt sich davor. Fünf Minuten lang betrachtet er das Ding. – Als warte er darauf, dass es endlich anfängt, ihm zu erzählen, was es heißt, schwul in Henningstadt zu sein. Und ob es am Ende nichts weiter heißt, als dass er eben in Henningstadt schwul ist. Dann ruft er bei der Aus kunft an und lässt sich die Nummer von der Schwu len Initiative geben.
«So was ham wir hier auch?», fragt die junge Frau am andern Ende der Leitung verwundert.
«Ja, so was! Ham wir hier auch!», teilt Henning ihr mit. Dann findet sie die Nummer, und die Computerstimme gibt sie anstandslos durch. Sie stimmt mit der auf dem Flyer überein. Auf jeden Fall gibt es den Verein tatsäch lich.
Henning setzt sich an den Schreibtisch und schreibt einen Brief an den lieben Gott. Er handelt von den ge wöhn lichen Sorgen und Ängsten, die Jungen
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