Henningstadt
warten und wird dann in ein Büro gebracht, wo ein Monsieur Guibard seine Angaben in den Computer tippt, gelegentlich nachfragt, um schließ lich dasselbe Formular, das Steffen ihm schon ge bracht hatte, zweimal auszudrucken. Das eine Exemplar stempelt er und legt es auf einen Stapel gleicher Papiere, das andere unterschreibt er und gibt es Steffen. Das war alles, versteht Steffen und geht raus. Das Auto konnte man nicht mehr abschließen, aber es steht noch da. We nig stens was, denkt sich Steffen. Er kann nur hoffen, dass der Verleih am Flughafen noch auf hat, wenn er an kommt. Steffen rechnet wütend den Wert der gestohlenen Sachen zusammen. Es ist mehr als er gedacht hat. Steffen dreht das Autoradio laut und fährt schnell. Die Fenster kur belt er runter und gleitet in einen wunderbaren Sonnenuntergang mit ganz intensiven Farben von wald-orange bis kitsch-rosa, abgesetzt von grauen Streifen. Steffen beruhigt sich. Besitz bindet. Er ist hergekommen, um die Freiheit zu finden, jetzt hat er sie. Er muss lachen. Er lacht. Dann singt er. Er singt ein französisches Lied: Sur le pont d ’ Avignon –
Am Flughafen kriegt Steffen ein neues Auto, eine Rechnung für das Schloss und ein mitleidiges Lächeln von beiden Damen, mit denen er zu tun hat. Die eine ist zuständig, die andere spricht englisch.
19
Es ist große Pause. Wie erwartet ist Henning nicht er schienen. Die zweite Stunde hätten sie zusammen gehabt. Isa ist sauer.
Andrea, mit der sie befreundet ist, kommt mit zwei Bechern Kaffee in der Hand auf sie zu. Zusammen gehen sie zum Raucherhof. Das ist jedes Mal dasselbe Gerenne. Zum Automaten, zum Raucherhof, der abgelegen ist, schnell rauchen und wieder zurück. In den Siebzigern hat es ein Schülercafe gegeben, in dem geraucht werden durf te, aber die Zeiten sind vorbei. Kurz nach dem Rauchver bot ist auch das Café eingegangen, weil keiner mehr Lust hatte, sich drum zu kümmern. «Was hat Henning denn, weißt du das?»
«Ach, Henning spinnt!»
Abwartend sieht Andrea Isabell an. Sie schlendern an den Rand des Raucherhofs, ohne sich abzusprechen. Um ungestört reden zu können. Der Pausenhof ist der Ort, an dem die Gerüchte gekocht werden. Isabell ist noch unent schlos sen.
«Kennst du einen, der schwul ist?», fragt sie. Andrea schüttelt den Kopf.
«Henning?», fragt Andrea.
Isabell gibt keine Antwort, aber das ist sehr beredt.
«Ach was!», sagt Andrea. Und als kein Widerspruch folgt, ist klar, dass sie Henning meint. «Woher willst du das denn wissen?»
«Er hat ’ s mit gesagt.»
«Aber ihr seid doch immer zusammen um die Häuser gezogen. — Ihr wart praktisch ein Paar.»
«Dachte ich auch», sagt Isa böse.
«Na, toll! Aber ein bisschen feminin hat er schon im mer gewirkt, das ist mir schon länger aufgefallen.»
«Na, und!», sagt Isabell. «Ich habe auch andere Sorgen als mich stundenlang zu schminken. – Bin ich deshalb viel leicht ‘ ne Lesbe?»
Andrea sieht ihr fragend in die Augen. «Ich bin keine Lesbe», sagt Isa schnell, um die Sache klarzustellen. «Ich bin sauer. Es hätte ihm wirklich früher einfallen können, dass er schwul ist. Seit fünf Jahren sind wir die besten Freun de, und er sagt es mir jetzt, wo er praktisch nicht mehr anders kann. Das ist doch scheiße. Ich bin echt an ge kotzt.»
«Warum konnte er nicht anders?»
«Rate dreimal!»
«Vielleicht hat er ’ s selber nicht gewusst.»
«Vielleicht, vielleicht», äfft sie Andrea nach. «Und wenn schon! – Jedenfalls hat er mich sitzen lassen, ich bin sauer.»
«Findest du, er hat dich sitzen lassen?», fragt Andrea nach. Sie will die Details.
«Ja, allerdings finde ich das!», sagt Isabell bestimmt und verweigert weitere Auskünfte. «Sag ’ s nicht weiter, das mit Henning.»
«Na, hör mal, das versteht sich ja wohl von selbst.»
Das findet Isabell allerdings auch.
20
Die Wände des Zimmers starren Henning an. Henning denkt daran, seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Alles ist eng, bestimmt, definiert. Er geht zur Wand, stellt sich davor. Stellt sich breitbeinig hin. Setzt die Hände gegen die Wand. Die Raufasertapete bildet ein unregel mäßiges Muster. Zahllose Variationen über das kleinste Thema. Henning stützt sich gegen die Wand, er lässt sei ne Nackenmuskeln los. Der Kopf macht ein verhaltenes Ge räusch an der Wand. Es hat nicht weh getan.
Henning lässt seinen Kopf mit Kraft gegen die Wand prallen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Henning starrt die Wand benommen
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