Henningstadt
es nichts für ihn ist. Kaffee hat er am Anfang auch furchtbar gefunden. Er wird also einfach abwarten, was der Abend bringt. Sie fangen an zu essen, und in der Dämmerung bemerkt er den leisen Anflug einer aufkom men den Geilheit.
«Also was iss jetzt?», fragt Isabell.
Henning zögert. Henning sieht auf seine Hände, die er im Schoß aufeinandergelegt hat. Henning sagt zu seinen Händen:
«Ich bin schwul», sagt Henning. Erst als er ihr in die Augen sieht, kommt es bei Isabell an.
«Aha», sagt sie.
Henning merkt, wie ihn ein Schluchzen im Hals würgt.
«Spinnst du?», sagt Isabell kalt.
Henning heult los. Isabell sieht ihn fassungslos an. Hen ning nimmt die Hände vor sein Gesicht und schluchzt. Isabell steht auf, berührt Henning kurz an der Schulter und geht aus dem Zimmer. Sie knallt die Küchen tür hinter sich zu.
Nach einer kleinen Weile beruhigt sich Henning. Er kennt Isabells impulsive Art, und wenn sie ihn auch trifft, kann er doch damit umgehen. Normalerweise. Er bleibt vor der Küchentür stehen und horcht. Stille. Er geht in den Flur. «Isa?», ruft er.
«Ja», kommt es ihm aus seinem Zimmer entgegen. Sie liegt auf seinem Bett. Ihre Augen sind feucht. Manchmal heult sie vor Wut. Er muss rauskriegen, was sie denkt. Die beiden sehen sich in die Augen.
Die große Stille steht zwischen ihnen und sieht sie abwechselnd an.
«Spinnst du?», fragt Isabell noch mal.
«Nein.»
«Das gibt ’ s doch nicht!», sagt Isabell. Dann sagt sie eine Weile nichts. «Wie lange denn schon?», erkundigt sie sich schließlich.
«Ich weiß nicht», sagt er. «Vielleicht seit ein paar Wo chen.» Schweigen.
«Und gibt sich das nach ein paar Wochen wieder?», hakt sie nach.
«Ich weiß nicht», sagt er. «Ich glaube nicht.»
«Du spinnst doch!» Ihr rinnt eine Träne die Wange run ter. Sie ist wütend und traurig und der, auf den sie sich verlassen hat: der hat sie verraten! Schwungvoll steht sie auf. Sie ist alleine auf der Welt.
«Ich ruf dich an», sagt sie in indifferentem Ton, geht an Henning vorbei, der immer noch in der Tür steht, und ver lässt die Wohnung. Die Tür klickt ins Schloss und Hen ning ist alleine. Er legt sich ins Bett, zieht die Decke über den Kopf und kauert sich zusammen. Er fühlt nichts und wartet auf das Einsetzen von irgendwas. Dann dreht er sich ausgestreckt auf den Rücken. Unwillkürlich atmet er tief ein und aus. Er fühlt, wie die Spannung aus seinem Körper fährt. Er ist traurig. Er ist erleichtert. Er ist unsag bar erleichtert, dass er es ihr gesagt hat. Sie ist seine Freun din und sie hat ein Recht, es zu wissen. Er hat ein Recht, kein Geheimnis vor seiner Freundin haben zu müs sen. Sonst taugt diese Freundschaft nichts. Das ist ein fes ter Entschluss, den er fasst. Er atmet tief ein und aus. Isabell ruft an, man wird sehen, was sie hat, was sie denkt. Er hat es gesagt und ist erleichtert. Er fällt in einen schwe ren, glücklichen Schlaf.
18
Steffen sitzt im Flugzeug nach Marseille und ist froh, Henningstadt wieder entronnen zu sein. Eine Woche Auf schub! Immerhin fast eine Woche allein und weit weg. Un ge stört in einer einsamen Hütte. Und wenn er sich langweilt, fährt er in die Städte der Umgebung: Aix en Provence, Montpellier, N î mes, Avignon.
Er sitzt am Fenster. Er sieht sich die Wolken an und freut sich. Er wollte sowieso nach Frankreich, nicht auf diese Inseln.
Ich bin eben ein Einzelgänger, sagt er sich und fasst sich in den Schritt, um seinen Schwanz zu spüren. Christian hat Recht. Niemand hat mich verlassen.
Fliegen ist wundervoll! Steffen liebt es, durch die Wol kendecke zu stoßen und die weißen Wattegebirge von oben zu sehen. Es mag ja sein, dass es sentimental ist, aber nichts gibt ihm so sehr das Gefühl von Freiheit wie über den Wolken zu schweben. Jahre seines Lebens wür de er dafür geben, wenn er einmal ohne jedes Hilfsmittel abheben könnte, abheben und fliegen, fliegen und alles Beengende hinter sich lassen.
Ich habe alle verlassen oder jedenfalls dafür gesorgt, dass sie mich verlassen, weil ich ein Einzelgänger bin und Beziehungen mir nicht gut tun. Ich habe keine Lust, we gen jedem Scheiß Kompromisse eingehen zu müssen. Ich bin auch nicht schwul geworden, um jetzt eine bürger liche Ehe mit einem Mann zu führen. Steffens Mund ist schmal geworden. Er ist wild entschlossen, mit dieser Er kenntnis nun endlich über sich Bescheid zu wissen, schließ lich ist er mit der Zeit alt genug geworden. Fast
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