Henningstadt
Lauter schöne Men schen, denkt er spöttelnd, denn seine Stufen kame ra den sind nach Mode der Zeit für den Sonntagnachmittag zurechtgemacht und strahlen fleißig die Würde ihrer Klei dung aus. Aber Henning ist bloß neidisch. Isa kommt näher und näher. Ein paar dutzend Meter vor Henning bleiben sie unvermittelt stehen, und Isa biegt in eine Sei ten gasse ein. Die anderen gehen hinterher. Henning kneift die Lippen zusammen. Er ärgert sich über Isabell, die ihn erkannt haben muss. Er unterdrückt seine Trau rig keit und ist aus Gründen des Selbstschutzes lieber wütend auf die blöde Sumpfkuh.
Fünf Minuten später kommt er in die Burgstraße. Num mer vierundzwanzig muss sich auf der linken Seite befinden, stellt Henning fest, als er in die Burgstraße ein biegt. Er wechselt auf die rechte Straßenseite, um erst mal an dem Haus vorbeizulaufen und einen Eindruck zu ge win nen. Ein großes, aber in keiner Weise auffälliges Ge bäu de aus Grauwacke scheint die Vierundzwanzig zu sein und ist es.
Henning läuft daran vorbei und geht die Straße weiter bis zur nächsten Querstraße. Er schämt sich. Die Scham sitzt in allen Gelenken und macht sie steif. Die Scham sitzt im Hals und drückt die Kehle zusammen. Sie knetet das Herz, hart schlägt es gegen den Brustkorb.
Er dreht um. Auf dem Rückweg ist das Gebäude keine unbekannte Größe mehr. Henning betritt den Seitenhof und sieht schon aus der Entfernung, dass man nicht ein fach durch die Eingangstür gehen kann, sondern sich vor her entscheiden muss, wohin man will. Ein großes Recht eck mit Klingeln. Henning will zur SIH, aber da die sich nur einmal in der Woche trifft, scheint es nicht sehr wahr scheinlich, dass der Verein eine eigene Klingel hat.
Die Klingelschilder sind nicht alle beschriftet. Zwei tra gen evangelische Abkürzungen, vier scheinen zu Privat woh nungen zu gehören und zwei sind unbeschriftet. Die Schwulen wollen vielleicht anonym bleiben. Möglicher wei se ist es also eine unbeschriftete Klingel, die er betäti gen möchte.
Wir werden es nie erfahren!
Denn der Retter aus dieser schwierigen Situation naht. Es ist Mark. Er trägt ein rot-rosanes, ins Blasslilane hinein spielendes Batiktuch nach Art der Palästinenser um den Hals geschlungen, Blue Jeans, T-Shirt, Jesuslatschen. Es ist zehn nach acht, und derjenige, der die laufende Woche den Schlüssel hat, ist in der Regel nicht mehr als eine viertel Stunde zu spät. Die anderen trudeln so gegen halb neun ein.
«Kann ich dir helfen?», fragt Mark freundlich, wäh rend er die Tür aufschließt. Sie war also in der Tat ver schlos sen, ganz wie Henning ja schon befürchtet hatte. Alter und Aussehen prädestinieren Mark dazu, ein Stu dent zu sein, ein evangelisch-engagierter Student. Das kom biniert Henning. So einer wird aber zumindest eine informative Auskunft geben, egal, was er ansonsten von Schwulen hält.
«Ich will zur Schwulen Initiative Henningstadt.» Den Schutz der Abkürzung fahren lassend, sagt Henning tap fer den Namen auf.
«Schön. Ich bin Mark, und du?», fragt Mark.
Henning würde denken, das war das Willkommen in der Schwulengruppe, wenn er sich nur sicher wäre, dass nicht auch der Pfarrer der Gemeinde jeden, mit dem er direkt auf dem Gemeindegelände spricht, nach seinem Na men fragt. Vielleicht ist der Typ der Gemeindepfarrer.
Dass auch der Pfarrer schwul sein könnte, fällt Hen ning ein. Mark führt Henning nämlich in eine Art kleinen Gemeindesaal und setzt sich. Der Pfarrer oder ein studen tischer Gemeindemitarbeiter würde nicht hierher kom men, um sich mal auf die Couch zu setzen.
Als Mark von Henning wissen will, ob der zum ersten Mal hier ist, entscheidet sich Henning, dass er in der rich ti gen Veranstaltung sitzt, und da liegt er ganz richtig.
Der Aufregung über die Schwierigkeit hierher zu ge lan gen folgt die Aufregung darüber, dass gleich ganz viele Schwule kommen und er wahrscheinlich vor vielen Menschen sagen muss, dass er schwul ist. Aber vielleicht fra gen sie ja auch nicht. Eigentlich ist es selbstverständ lich, dass er schwul ist, weil er zur Schwulengruppe geht. Allerdings hätte er ja auch hier sein können, weil er einen Artikel für die Schülerzeitung machen will, wie Frau Schein schlag vorgeschlagen hat.
So sitzt er also in einem Sessel der Schwuleninitiative, der nur einmal die Woche zwei Stunden so genannt wer den kann, und hängt seinen Gedanken nach. Lieber wäre ihm gewesen, er wäre durch eine Tür mit der klaren Aufschrift Hier
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