Henningstadt
purzeln ihm entgegen. Enttäuscht nimmt er den Kram mit rein. Geht direkt in sein Schlaf- und Arbeitszimmer, um die neuen Schätzchen dort zu verstauen. Die Entdeckung des Tages ist das grünste Grün, zusammen mit Rötelkrei de. Es ist dunkelgrün. Viel braun dabei. Eine gedeckte Far be, aber sie ist grüner als irgendwas.
Auf dem Schreibtisch schlägt er die Zeitung auf, um zu sehen, ob es was über die Flyer zu lesen gibt. Aber es scheint die Presse, jedenfalls den Anzeiger, nicht zu inter es sieren. Steffen merkt, wie sich der Ärger über die Bor niert heit dieser kleinen Stadt in seinem Bauch breit macht. Er fletscht die Zähne und lässt die Kiefer ein paar Mal kraft voll aufeinander klacken. Eine furchteinflößende Ges te.
Ein Pizzaservice hat ihm geschrieben. Eine doppelt ge fal tete Wurfsendung, rot auf chlorfrei-creme. Das Unter neh men hat einen ungewöhnlich umfangreichen Liefer ser vice: Wir liefern: Ins Büro. Nach Hause. Auch Festsäle für sechzig Personen.
Steffen kichert: Werbetechnisch alles kein Problem!
Aus der Beilage eines Herrenausstatters, den eine Agen tur mit dem schönen Namen Hugo Besser erstellt hat, gleitet eine Postkarte. Steffen liest die Unterschrift: Lutz. Lutz von den Urlaubsinseln.
Lieber Steffen! schreibt Lutz. Wie geht ’ s dir? Ich hoffe gut!
Ich schreibe Dir nicht, weil ich unglücklich verliebt bin. Du hast mir wirklich gut gefallen, und ich hatte ein paar meiner geilsten Sexerlebnisse mit dir! Vielleicht reicht es nicht zum Zusammenleben, aber im Bett war es doch geil, oder? Ich wünsche mir, wir würden das mal fortsetzen. Ich habe nicht vor zu klammern oder so. Ich meine wirk lich, wir könnten uns aneinander aufwärmen, in dieser kal ten Welt. Ich habe mich auch total geändert: Ich lebe jetzt auf einem großen Baum hinter meiner Bank. Ich gehe barfuß und alle Spiegel sind schon runtergefallen. Ich habe dicke Hornhaut an den Händen, Füßen und überall bekommen. Vom Klettern auf der rauen Rinde. Ein richti ger Naturbursche, wie es dir gefällt. Ich ernähre mich haupt sächlich von Eichhörnchen, die hier rumlaufen. Kein Modeterror, usw. Versprochen! Ruf mich an, wenn du geil bist. Dein Lutz.
Natürlich freut es ihn, und natürlich macht es ihn auch geil, was da über ihn gesagt wird. Die Schwulen sind ein seltsames Völkchen, denkt Steffen selig lächelnd. Lutz. Lutz lebt auf einem Baum. Soso. Lutz will Sex. Die Karte eines aufgeklärten, erwachsenen Schwulen. Na ja.
Henning war zart und tastend und schüchtern und noch gar nicht sicher, ob er Sex will. Steffen hat es Spaß ge macht, dass nicht gleich alles am Anfang passiert. Wa rum auch? Sie haben Zeit. Steffen will Henning erobern. Er will sehen, wie sich Hennings Gesicht entspannt und in Geilheit verzerrt.
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Henning geht in den Wald. Das L icht fließt durch die Bäume. Der Krach, den die Natur macht, ist angenehmer als der Stadtlärm. Es war alles ein bisschen viel. Henning ist schwul, ist ohne Isabell, seine Eltern sind zurück, er muss wieder zur Schule. Er fürchtet sich wieder im Dun keln.
Er ist verliebt, das steht wohl fest. In einen Typen, der über zehn Jahre älter ist als er. Der Altersunterschied ist ihm egal. Er fragt sich, was sie eigentlich gemeinsam ha ben. — Beide sind verliebt. Das scheint zu reichen. Stef fens Art gefällt Henning, aber was das genau sein soll, weiß er auch nicht. Er mag es, wie Steffen sich bewegt, wie er redet, wie er aussieht. Henning lächelt, und ein bö ser Autor würde ihn jetzt über eine Wurzel stolpern las sen. Henning lächelt verträumt und denkt an Steffens Or gas mus, an sein Grinsen, sein Lächeln, sein freundliches, sein entspanntes, sein lustiges, sein beruhigendes Gesicht. Steffen ist schön, findet Henning. Steffen ist nicht schön wie die Männer aus der Werbung, aber er riecht besser.
Er überlegt, ob er Isabell anrufen soll. Er denkt an seine Eltern. Wie sag ich ’ s meinem Kinde, überlegt er. Vielleicht soll er einfach noch warten? Vielleicht soll er es einfach hinter sich bringen. Einfach, einfach! Henning hat schwe re Gedanken.
An der Quelle angekommen setzt er sich auf eine Bank. Er blättert in seinen Englisch-Vokabeln, aber eigent lich interessiert er sich nicht für die Buchstaben.
Die Pernaz-Schwestern biegen um die Ecke. Ihre modischen grauen Kurzhaarfrisuren für alte Damen wippen bei ihren Schritten. «Hallo! Hallo, Henning! Hallo!», sagen sie. Henning sagt Guten Tag. Die drei setzen sich ein Stück von Henning
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