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Henningstadt

Henningstadt

Titel: Henningstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Brühl
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verwirrt und durcheinander, dass es kei nen Ausgang findet. Dabei br ä uchte es ja nur was zu sagen.
    Die Jahreszeiten reichen sich die Hände. Die Brust kör be der Staigers heben und senken sich kaum, sie atmen flach und leise. Sie wollen die Erdkugel, den Irrstern, nicht mit zu heftigem Atmen endgültig aus der Bahn we hen. Der Sommer vergeht und Herbst zieht am Horizont auf, die Topfpflanzen verblühen. Es wird Winter. Der Win ter herrscht, und die Staigers verstauben in ihrem ge pflegtem Wohnzimmer. Im Frühjahr hört man das Surren einer Fliege, die sich auf dem Regal niederlässt. Das Früh jahr färbt sich, wird rot und gelb und blau und es fließt in den Sommer hinüber. Nachdem ein Jahr in vollkom me nem Schweigen vergangen ist, die Lethe weiterhin rings um das Wohnzimmer der Staigers brandet und unheilvoll murmelt, sagt Henning: «Ich geh in mein Zimmer!» Nie mand widerspricht ihm. Er steht vorsichtig auf, seine Bewe gungen sind langsam und schwer. Jedes Körperteil fühlt sich hohl an und brennt. Es ist ein seltsames Gefühl zu gehen, nachdem man ein Jahr und ein paar Minuten mit seinen Eltern im Wohnzimmer gesessen hat. Henning schafft es bis in sein Bett und zieht die Decke über beide Ohren. Er entspannt sich und sein Körper zuckt unter den Schlä gen des Schicksals, die Muskeln geben die Span nung frei. Henning wird von einer so großen Trauer über schwemmt, dass er sofort aus namenlosem Kummer ein ge gan gen wäre, hätte er nicht das Geschickteste gemacht, was man in dieser Situation machen kann: seine Seele dem Allmächtigen befehlen, onanieren und einschlafen.
    Die Gottesmutter, die sich besonders für die Schwulen interessiert, sitzt auf einer Wolke direkt über Henning stadt und schüttelt betrübt den Kopf. Sie würde Henning gerne anrufen.
    Sie hat sich von den zweihundert Mark, die ein Engel meiner Freundin Gisela geklaut hat, ein Handy gekauft. Der liebe Gott hat ihr aber verboten, mit den Leuten zu tele fonieren, und wenn der was will, dann setzt er sich auch durch. Maria kann sich keine Telefonnummern mer ken. Kaum hat sie eine gelesen, hat sie sie schon wieder vergessen. Engel können sowieso nicht denken, und ande re Vertraute hat sie nicht. Sie weiß also auch nicht, was sie machen soll. Erscheinen könnte sie natürlich, aber erfahrungsgemäß stiftet das mehr Verwirrung als Heil. Wenn die Leute Henning dann für schwul und verrückt hal ten, ist auch nichts gewonnen.
    So kann sie nichts machen, als selbst ein bisschen zu weinen, und die inneren Kreise der Engel, die sie zu ih rem ewigen Ruhm umgeben, unterbrechen ihren Jubel und singen ein Klagelied. Weil die Engel nur was aus der Bibel singen können, hat sie ihnen selbst die Klage Sauls um David beigebracht. Sie hat fünfhundert Jahre lang über die musikalische Umsetzung nachgedacht, und schließ lich ist sie so herzergreifend schön geworden, dass sogar der alte Bach, der nach seinem irdischem Ableben zum himmlischen Kapellmeister berufen wurde, jedes Mal einen Tobsuchtsanfall vor Neid kriegt. Und das in der Vorhalle des Allmächtigen!
    Jedes Mal sieht sich der Demiurg erneut mit der Frage konfrontiert, ob es wirklich eine gute Idee war, diese Er fin dung der Individualität. Die Engel vertragen sich schon seit Jahrmillionen, und Gott, der sämtliche mögli chen Musiken kennt, weil in ihm alle Töne und Klänge in allen möglichen Kombinationen zugleich präsent sind, kann gar nicht verstehen, dass man sich wegen der paar Noten so echauffiert.
    Die Gottesmutter lässt den Kopf hängen, obwohl sie das wegen ihres göttlichen Berufs als Spenderin unend li chen Trostes natürlich nicht machen sollte. Sie weiß, was es bedeutet, sich gegen Konventionen der Gesellschaft durch setzen zu müssen: Sie war schließlich auch nicht mit Gott verheiratet, als sie den Christus gebären musste. Aus ge rech net sie, wo es gerade anfing, mit Joseph nett zu werden.
    Die Leute haben sich nie daran gewöhnt. Der Erlöser unehelich! Lächerlich und lästerlich haben sie das gefun den. Na ja, die Zeiten sind vorbei, denkt sich die Him mels königin.
    Und indem sie sich wieder auf ihren Trösterinnen-Job besinnt, stimmt sie ein Hosianna an. Was soll sie sonst machen? Trübsal blasen bringt nichts.
    Das Ende der Welt wird 2034 sein, und so lange hält sie auch noch durch, das wäre ja gelacht! 2034 ist das zwei tausendjährige Jubiläum der Kreuzigung. Maria fin det es ein bisschen makaber, die Auferstehung an so einem Datum stattfinden zu lassen,

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