Henningstadt
tern wirklich sehr in Ordnung, wenn man sich die Fakten vergegenwärtigt. Aber die Stimmung und die Blicke wa ren furchtbar. Er findet es gemein, dass sein Verhalten die Eltern verletzt, denn eigentlich sind sie es, die ihn verlet zen. Was hätte er machen sollen? Er ist eben schwul, und belogen werden wollen sie auch nicht.
Henning klingelt. Keiner öffnet. Er hat vergessen, Stef fen anzurufen und die Verabredung klarzumachen. Er flucht enttäuscht. Er geht hinters Haus und holt den Kel lerschlüssel aus dem Versteck.
Er ruft durch das Haus, aber Steffen ist wirklich nicht da. Auch im Schlafzimmer ist er nicht. Henning hat ge dacht, dass er die Klingel vielleicht nicht gehört hat, weil er schläft. Hoffentlich kommt er bald, denkt Henning. Er nimmt sich ein schwules Buch aus Steffens Bücherregal und setzt sich ins Wohnzimmer. Auf dem Tischchen fin det er einen Zettel.
Li eber Henning! Tut mir Leid! Ich hätte dich anrufen sollen. Brauche Zeit z um Nachdenken. Fahre z u einer Freundin, kom me in ein paar Tagen wieder. So rr y, Steffen.
Er hat solche Angst, Steffen zu verlieren, gerade jetzt. Henning überlegt, ob es Anzeichen gegeben hat, dass Stef fen ihn nicht mehr mag oder dass er ihm auf die Ner ven gegangen ist. Na ja. Anzeichen gibt es immer, wenn man danach sucht, aber eigentlich gibt es keine. Es war sehr schön mit Steffen in der letzten Woche, eigentlich von Anfang an, und er hat gedacht, dass Steffen es auch schön findet mit ihm. Er muss ihn ja nicht gleich heiraten. Sie sind schon unterschiedlich, aber Henning war der Mei nung, dass sie einfach gut zusammenpassen. Es hat ein paar Missverständnisse gegeben, aber schließlich ler nen sie sich ja erst kennen. Also, er kann sich keinen Reim auf die Sache machen. Er setzt Kaffee auf, weil er immer noch müde ist, und schenkt sich einen Kognak ein.
Den Kognak trinkt er auf dem Weg ins Wohnzimmer, er legt sich auf die Couch. Kurz bevor er wegdämmert, sieht er Steffens Gesicht vor sich.
66
Auf dem Küchentisch seiner Freundin Tete liegen zwei Bücher: Die Lacher der Jungen Vera von einem Herrn J. W. von Goebel ist unter einer halb verbrauchten Packung But ter und verschiedenen Sorten Brotbelag begraben. «Wa rum soll ich den Krempel immer wegräumen, wenn ich sowieso jeden Morgen frühstücke? — Andere Leute essen nicht mal regelmäßig!», ist Nofretetes Standpunkt. Ein schreiend rosanes Bändchen mit dem Titel Lebensan sichten einer gepflegten Tunte liegt zerfleddert daneben.
«Das ist vielleicht ein beklopptes Buch», sagt Tete. «Es ist viel zu wahr. Man sollte nichts Wahres in Bücher schrei ben! — Das macht nur Ärger.»
«Findest du?», fragt Steffen. Christian sieht das sicher ganz anders.
«Man sollte auch nichts Ernstes vor zwanzig Uhr sa gen, mein Lieber!», antwortet Tete. «Der Magen schläft nach dem Aufstehen drei Stunden lang weiter. — Und Wahr heit kommt ja aus dem Bauch.»
«Es ist zwanzig Uhr, meine Liebe, seit ich die Woh nung betreten habe, und ich bin gekommen, um was sehr Ernstes zu besprechen.»
«Ach Steffen! Schön, dass du da bist.» Tete legt ihre Hand auf Steffens Hand. «Warum ziehst du nicht wieder her, in die Hauptstadt?»
«Mal sehn», brummelt Steffen.
Hat er auf der Zugfahrt auch schon dran gedacht. Wenn man ‘ ne Stelle kriegt. Müsste man sich halt mal drum kümmern. Er weiß auch nicht. Damals ist er aus der Hauptstadt weggegangen, weil ihm die Großstadt auf die Nerven gegangen ist. Seit er eine Weile in Henningstadt lebt, findet er Kleinstadt aber viel schlimmer.
«Willst du was essen?», fragt Tete und räumt den Kü chentisch ein bisschen um.
«Ja, gerne», sagt Steffen.
«Gibt ’ s die Siegessäule noch?»
«Im Zimmer auf dem Tischchen.» Im Zimmer stehen vier Tischchen.
«Ja, ich weiß auch nicht. — Den einen hab ich von einer Tante geerbt, einen hat mir der Typ von oben dage lassen, und zwei hatte ich sowieso schon. Willst du einen haben? Ich wäre dir dankbar. — Dann kannst du immer an mich denken, wenn du was draufkleckerst.» Sie blin kert und legt ihr somnambules Lächeln auf. Steffen lacht. «Danke, nein. Du kannst mir ein Foto von dir mitgeben.»
Tete stöhnt auf. «Du kannst das aus meinem alten Füh rerschein haben.»
Sie essen Butterbrot. Steffen fragt nach gemeinsamen Bekannten. Einen Toten gibt es zu beklagen und ein an de rer hat geheiratet.
«Also, was treibt dich denn nun so unerwartet in die Hauptstadt?»
«Die L iebe», sagt Steffen kauend.
«Und, geht sie
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