Henningstadt
ausgerechnet! Aber wenn sie etwas hier oben gelernt hat, dann, dass die We ge des Herrn wirklich sonderbar sind. Auferstehung am Todestag macht irgendwie keinen guten Eindruck...
Übrigens ist ihr Sohn im Jahr sieben vor Christus geboren worden, hat also nicht dreiunddreißig, sondern einundvierzig Jahre gelebt. Da könnte langsam auch mal jemand drauf kommen, denkt sie.
Gleich wird die alte Selbdritt, ihre Mutter, vorbei schau en. Die war auch böse mit ihr damals wegen Gott und dem unehelichen Verkehr, dabei hat sie kaum was ge spürt. Inzwischen hat sie aber eingesehen, dass eine Verbindung, die nicht institutionalisiert ist, auch ihre Vor züge hat.
Maria braucht jetzt einen Kaffee. Die lobpreisenden En gel, die auch kleine Aufgaben für sie versehen, müssen erstens immer im Chor bleiben, und sich zweitens immer drehen. Es sieht ziemlich seltsam aus, wenn dreißig kreisende Engelchen versuchen, eine Kaffeemaschine an zu wer fen. Maria besteht aber darauf, ein paar menschli che Sitten beizubehalten — wegen der Volksnähe, und sie möchte auch ein bisschen mit der Zeit gehen. Sie könnte ja Hennings Kaffee segnen, f ä llt ihr ein. Das darf sie und das nützt auch was. Kaffee ist ein ziemlich guter Segens träger. Das ist jedenfalls ihre Erfahrung. Die Wilden wuss ten schon, was gut ist. Die Muttergottes segnet also den Kaffee, den Henning trinken wird. Es dauert einen Mo ment, denn es ist eine ziemlich komplizierte Aktion, auch für jemanden, der so geübt ist wie sie.
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Henning wacht auf. Er ist müde und schlaftrunken. Draußen ist es noch hell, lange kann er nicht geschlafen haben. Er geht in den Flur und versucht zu hören, wo seine Eltern sind. Alles ist still. Na ja. Er hat keine Lust, ihnen zu begegnen, aber auf Dauer wird sich das nicht ver meiden lassen. Er geht in die Küche, um sich Kaffee zu kochen.
Auf der Anrichte steht ein Stück Kuchen auf einem Dessertteller. Ein Gäbelchen liegt auch schon drauf. Das ist für ihn. Danke.
Wie soll er seinen Eltern erklären, was Schwul Sein ist? Er weiß selber nicht, was es ist. Er ist Henning. Über Schwul-Sein kann er nicht viel sagen, Schwul-Sein ist erst zwei Wochen alt. Aber natürlich kann er was erzählen. Er kann von Steffen erzählen. Dass er sich verliebt hat. Aber dass sie das hören wollen, ist relativ unwahrscheinlich. Sonn tag kann er Meinungen einholen, was am besten zu tun ist in seiner Situation. Bis Sonntag haben sich seine Eltern hoffentlich schon ein bisschen dran gewöhnt. Seine Mutter wird ihn für pervers halten, ohne zu wissen, was sie damit meint. Zwei Schwänze in einem Bett. Er kann ver stehen, dass man das pervers findet. Der Hetenterror hat auch bei Henning zugeschlagen. Er kann sich nicht helfen. Er findet es seltsam, schwul zu sein. Weil er selbst schwul ist, will er nicht, dass er es pervers findet. Aber ko misch ist es auf jeden Fall. Trotzdem ist es das Nor malste. Mit Kaffee und Kuchen geht er in sein Zimmer. Er stopft Socken, T-Shirt, Unterhose und seine Lieblings-CD in den Rucksack. Sie haben ja nun einfach vergessen, ihm den Besuch bei Steffen zu verbieten. Oder sie wollten es nicht verbieten. Jedenfalls wird er einfach gehen und es sich nicht verbieten lassen. Er ist sein eigener Herr. Zahn bürste holt er noch. Unterhose packt er ein. Er schreibt Stef fens Nummer auf einen extra Zettel und legt sie auf seinen Schreibtisch, damit seine Eltern ihn anrufen kön nen, wenn es sein muss. Die Adresse nicht. Sein Adress buch und den Adresszettel nimmt er mit. Allerdings weiß er nicht, ob seine Eltern die Anschrift einfach im Telefon buch nachschlagen können, wenn sie den Nachnamen be hal ten haben.
Er geht ins Wohnzimmer. Da sitzen sie. Sie sehen trau rig und ruhig aus. Aber vielleicht bildet er sich das auch nur ein. «Henning», sagt seine Mutter mit einer seltsamen Sehn sucht in der Stimme.
«Ich geh jetzt. Tschüs!»
«Wohin?», fragt sein Vater.
«Na, zu Steffen.»
Seine Mutter schaut zu Boden.
«Um elf bist du wieder zu Hause!», poltert sein Vater.
Henning gibt keine Antwort. Er geht. Er ist froh, dass sie ihm nicht überhaupt verbieten wollen, zu ihm zu ge hen. Den Zettel mit der Nummer nimmt er doch mit. Er ist sauer, dass er nicht bei Steffen übernachten soll.
Unterwegs wird er plötzlich wieder total müde. Er ver langsamt seinen Schritt und setzt sich auf die Bank an einer Bushaltestelle. Er weint ein bisschen, er weiß nicht warum. Weil alles so schwierig ist. Dabei waren seine El
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