Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Henningstadt

Henningstadt

Titel: Henningstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Brühl
Vom Netzwerk:
nicht mal unfreundlich. Wahrscheinlich ist es Unflätigkeiten gewöhnt.
    «Dazu müssten wir uns treffen», sagt Tete.
    «Ja, gut», sagt das Schicksal und legt auf. Tete ist ein bisschen zittrig. Sie drückt ihre Zigarette aus und wählt zum dritten Mal Martins Nummer. Diesmal ist er dran. Erleichtert macht sie für Steffen was mit ihm aus. Alles klar. Damit ist alles klar. Das Schicksal hat seinen Besuch angekündigt. Tete ist das alles nicht geheuer. Der Typ hat nichts über sie gewusst. Ein Spinner! Ein Spinner, der die Telefonleitung manipuliert hat. Tete ist die Sache nicht ge heuer. Nach dem Gespräch mit Martin lacht sie darü ber, auch darüber, dass der Typ es tatsächlich geschafft hat, sie aus der Ruhe zu bringen.
    Steffen geht zu Martin. Dann will er in die Sauna. Tete soll nachkommen, und Martin kommt entweder mit oder lässt es bleiben. Tete bleibt erst mal zu Hause und erholt sich von der permanenten Gemeinsamkeit mit Steffen. Sie erledigt ein bisschen Krempel im Haushalt und in der Selbst verwaltung. Sie hat ihr Leben fest im Griff.
     
     
     
    71
     
    Henning sitzt im Zug. Geld hat er. Er macht sich Ge dan ken über Steffen. Er hat Angst, dass der ihn raus schmeißt, wenn er bei Tete auftaucht. Er hat Angst, dass Steffen gar nicht da ist. Er hat Angst, dass Steffen Schluss machen will. Es ist einfach so viel passiert in den letzten beiden Tagen. Henning stellt sich Steffens Gesicht vor, wie es zornig ist. Die Stirnader tritt hervor, die Wangen sind gerötet, und die Augen blitzen. Die Augenbrauen zie hen sich noch dichter zusammen und der rechte Arm hebt sich. Steffen öffnet den Mund und gibt den Blick frei auf zwei gigantische überstehende Eckzähne. Sein Gesicht wird grünlich und zergeht in schorfige Hautfetzen. Sein Ge sicht ist braun-grün. Am Hals treten die zum Zerreißen gespannten Sehnen hervor. Steffens Augen fangen an rot zu glimmen, dann setzt er zum Sprechen an. Die Erde bebt. Erschütterungen gehen schnell und heftig durch Henning. Sein Kopf wird hin und her geschüttelt. Steffen grollt mit tiefer Stimme: «Die Fahrkarte bitte!»
    Henning wacht auf. Er braucht einen Moment um sich zu orientieren, aber die Botschaft des Schaffners ist so ein fach und klar, dass er schnell weiß, was er zu tun hat. Er kramt seine Fahrkarte vor und zeigt sie ihm.
    Die Landschaft gleitet zu beiden Seiten an den Fens tern vorbei. Henning seufzt. Was soll sie sonst machen? Von innen scheint die Fahrt ganz langsam zu gehen. Hü gel fließen auf und ab. Ein seltsamer Effekt.
    Wirr und dumpf. «Wirr und dumpf», murmelt Hen ning vor sich hin, den Kopf gegen das Fenster gewendet. «Wirr und dumpf», sagt Henning zu den Feldern, die fal len und steigen. Gelbe Felder und grüne Wiesen. Hoch und runter in sanften Wellen. Henning atmet mit dem Rhythmus der Landschaft ein und aus. Er hat die Augen voll Tränen, fühlt sich wirr und dumpf. Morgens und auf dem Weg zur Bahn ging ’ s ihm ganz gut. Er hatte Sachen zu planen und zu regeln. Das hat ihn abgelenkt, aber jetzt, nachdem er ein paar Stunden in diesem Zug sitzt, ist da wieder das Scheißgefühl. Wirr und dumpf nennt er es. Er hat eine Weile gebraucht, bis er den Namen gefunden hat. Es ist ein neues Gefühl.
    Henning denkt an das fürchterliche Krankenhaus, in dem Lars liegt. Weiße Wände, die diesen unbestimmten Farbton von Dreck, Krankheit und Verzweiflung ange nom men haben. Ein Tränchen rollt ihm die Wangen run ter. Henning weint gerne. Eigentlich. Weil es gut tut und weil es so schön dramatisch ist. Und weil man es darf — mehr oder weniger. Jedenfalls ist es die einzige akzeptier te Form der Äußerung extremer Gefühle, die man sich im Zug erlauben kann. Alles andere macht zu viel Krach.
    Henning geht zum Zugtelefon und freut sich, dass er eine Telefonkarte hat. Er ruft Isabell an und fragt sie, ob es was Neues wegen Lars gibt. Gibt es nicht. Er liegt im mer noch im Koma, aber sonst, auch wenn es zynisch klingt, ist sein Zustand gut: Das Herz geht regelmäßig und er atmet. Wenn er bald aufwacht, muss es nicht un be dingt irreparable Schäden geben. «Kann aber?», erkun digt sich Henning. «Kann», bestätigt Isabell. «Und erst mal muss er aufwachen.»
    «Henning, deine Eltern haben hier angerufen, ob du wirklich nicht bei uns bist. — Deine Mama klang gar nicht gut. Wo bist du? Bist du wieder zu Hause?»
    «Ich sitze im Zug nach Berlin.»
    «Bitte?», ruft Isabell überrascht und wohl auch ein biss chen neidisch.
    «Steffen ist weg! Und ich

Weitere Kostenlose Bücher